1: Brutstätte
„Ich bin schwanger.“
„Ach! Ich hatte immer geglaubt, Sie wären fett.“ Das
hatte mir gerade noch gefehlt! Karen Wagner war zwar
„nur“ eine Mitarbeiterin im Archiv (da konnte sie
hemmungslos ihrer Leidenschaft für Donuts frönen), aber
dort schaffte sie trotz aller Völlerei ein recht ordentliches
Pensum.
Die Kanzlei wurde gerade von einigen Top-Fällen bis
an die Kapazitätsgrenzen getrieben und es war höllisch
schwer, ausreichend viele, auch nur annähernd geeignete
Arbeitskräfte zu finden. Jeder Ausfall schmerzte in dieser
Zeit besonders.
„Nein … also … äh … ich bin erst in der dritten
Woche.“
„Ach so. Und Sie wollen mir jetzt sagen, dass Sie sich
keine Abtreibung leisten können?“
„Nein, Miss Bonnaire. Ich wollte kündigen. Ich gehe
davon aus, dass es in dieser Firma keinen Bonus für
eine Schwangerschaft gibt, obwohl … für die Geburtenrate
wäre das bestimmt gut.“
„Die Geburtenrate? Ich kann mich nicht erinnern, dass
wir uns die nationale Aufgabe zur Erhaltung des
amerikanischen Volkes zu Eigen gemacht hätten. Wir sind
eine Kanzlei und keine Brutstätte. Warum kommen Sie zu
mir? Sie müssen doch sowieso schriftlich kündigen.“
„Ich finde, dass es zu einem anständigen Umgang
gehört, solche Dinge persönlich zu besprechen.“
Tickte die noch ganz sauber? „Mag sein. Mit Ihrem
Vorgesetzten. Das ist Mr. Harrison, wenn ich nicht irre.“
„Jul … Mr. Harrison ist bereits informiert. Er war der
Erste, der es erfahren hat.“
„Noch vor dem angehenden Vater? Das … ach!
Verstehe.“
„Verstehe.“
Das konnte ja wohl nicht wahr sein! Offenbar hatte ich
mich geirrt, als ich sagte, die Kanzlei sei keine Brutstätte.
„Miss Bonnaire, ich bin zu Ihnen gekommen, um Sie zu
informieren, dass wir es nicht aus einer Laune heraus
getan haben.“
Eine Laune? Was meinte sie? Etwa so: „Gehen wir ins
Kino oder machen wir ein Baby?“ „Oh, mir ist gerade so
nach vollgeschissenen Windeln. Erst schwängerst Du mich
und danach gehen wir ins Kino, okay?“
Wer kann denn so blöd sein, sein Leben aufgrund
einer „Laune“ komplett auf den Kopf zu stellen? Wie
konnte sie glauben, ich würde einen derartigen
Schwachsinn auch nur vermuten? Mein Ärger nahm zu.
„Miss Wagner, Ihre Motive sind sicher sehr interessant,
aber das sollten Sie besser mit den anderen Muttertieren
in der Schwangerschaftsgymnastik erörtern.“
„Ich wollte es Ihnen nur sagen, damit Sie wissen, dass
es nichts an der Leistung von Jules … Mr. Harrison
ändert. Er wird Ihnen natürlich auch weiterhin zur vollen
Verfügung stehen.“
Daher wehte also der Wind! Da hatte wohl jemand ein
schlechtes Gewissen. Leistung? Tolle Leistung! Der hätte
seinen Braten ruhig in eine andere Röhre schieben
können, wenn er sich schon nicht beherrschen konnte!
„Danke, Miss Wagner, dass Sie mir Ihre Auffassung
mitgeteilt haben. Wenn das alles ist … ich habe viel zu
tun. Denken Sie an die schriftliche Kündigung! Guten
Tag.“ Dumme Pute!
Reichlich betreten und mit einer sorgenvollen Miene
schlich sich das dicke Mädchen aus meinem Büro.
Ich griff zum Telefonhörer. Ich war richtig sauer. „Kelly,
bitte geben Sie Harrison im Archiv Bescheid, dass ich ihn
sprechen möchte. In meinem Büro. Sofort.“
Es dauerte nicht lange und Harrison, der Retter der
dicken Frauen und Begatter der Büromäuse, stand vor
mir. Er wusste natürlich genau, was ihn erwartete.
Ich machte aus meinem Ärger keinen Hehl. „Ich
dachte, im Archiv arbeiten nur Eunuchen. Haben Sie bei
Ihrer Einstellung gelogen?“
„Impotenz war keine Einstellungsvoraussetzung, Miss
Bonnaire“, konterte er. Das war mutig.
„Auf den Gedanken, Ihr Ding lieber in einen von Miss
Wagners zahlreichen Donuts zu stecken, sind sie wohl
nicht gekommen?“
„Oh. Da muss ich wohl etwas verwechselt haben.“
Das war gut! Damit brachte er mich doch tatsächlich
fast zum Lächeln. Auf jeden Fall nahm mir das meine
größte Verärgerung. „Haben Sie nicht aufgepasst?“
„Haben Sie nicht aufgepasst?“
„Ich dachte, das hätte ich. Mir ist schon klar, dass Sie
100 Prozent von Ihren Mitarbeitern fordern und ich weiß
auch, dass wir uns im Moment vor Arbeit nicht retten
können. Deshalb müssen Sie mir glauben, dass es keine
Absicht war.“
„Ach! Da sind sie wohl in etwas … hineingerutscht?“
„Ich weiß auch nicht. Es war nur eine Affäre. Ich
konnte ja nicht ahnen, dass sie das Kind tatsächlich will.“
„Als Frauenversteher werden Sie ja auch nicht bezahlt.
Und jetzt?“
„Sie können sich auch weiterhin auf mich verlassen.
Ich werde wegen dieser Sache in meiner Arbeitsleistung
nicht nachlassen.“
„Das rate ich Ihnen. Sollte ich erfahren, dass sie noch
eine meiner Angestellten schwängern, dann können Sie
sich einen neuen Job suchen. Die Aufgaben von Miss
Wagner werden Sie vorläufig selbst erledigen. Zusätzlich.
Eine Mehrvergütung gibt es dafür nicht. Klar?“
„Klar. Danke, Miss Bonnaire.“
Er wandte sich gerade zur Tür, als ich noch meinte:
„Harrison!“
„Ja?“
„Kaufen Sie sich eine Brille oder arbeiten Sie an Ihrem
Geschmack! Ist ja eklig!“
Harrison lief rot an, aber ging, ohne noch etwas zu
sagen.
Ich überlegte, wie das Balg wohl aussehen würde.
Vermutlich wie seine Mutter. Ein kleiner, hässlicher
Fleischklops mit einem Donut an der Stelle des Mundes?
Ohne meinen Ärger über den Verlust einer Arbeitskraft
hätte ich vielleicht sogar Mitleid mit Harrison gehabt.
An diesem Tag sollte es aber noch viel schlimmer
kommen, denn nur kurze Zeit später hatte ich wieder
meine Sekretärin Kelly in der Leitung: „Mr. Hughes lässt
fragen, ob Sie kurz Zeit für ihn haben.“
Conrad Hughes war einer meiner Senior-Partner. Er
hatte die Kanzlei gemeinsam mit meinem Dad aufgebaut.
„Natürlich. Wo?“
„Raum 7.“
„Sagen Sie Mr. Hughes, dass ich schon unterwegs bin!“
Conrad gehörte zu den wenigen Menschen, die ich
wirklich inspirierend fand. Ein Gespräch mit ihm war meist
angenehm und unterhaltsam. Er wartete am Fenster auf
mich.
Er wartete am Fenster auf mich.
„Ah, Patty! Tut mir leid, dass Dich einfach so bei der
Arbeit störe.“
„Guten Morgen, Conrad. Du darfst mich jederzeit
‚stören‘. Das weißt Du doch. Was gibt’s?“
„Susan Almond hat mich angerufen.“
„Die Frau von Lance Almond?“ Lance Almond war
einer unserer Strafverteidiger. Ein guter Mann, der kurz
vor seiner Berufung zum Junior-Partner stand.
„Ja. Lance hatte einen schweren Autounfall.“
„Oh? Lebt er noch? Wie lange fällt er aus?“
Der Anflug eines ironischen Lächelns umspielte
Conrads Mundwinkel. „Ja, er lebt noch und – danke der
Nachfrage – es geht ihm den Umständen entsprechend
gut. Ein paar Knochenbrüche und Prellungen. Er muss
wohl großes Glück gehabt haben.“
„Schön. Kann er damit arb … ich meine … kann er
laufen?“
„Er wird uns fünf bis sechs Wochen nicht zur
Verfügung stehen.“
„So ein Mist! Für Lance, meine ich.“
„Natürlich, Patty, natürlich. Für uns wirft das auch ein
paar Probleme auf. Wie Du weißt, haben wir im Moment
alle mehr zu tun, als wir eigentlich bewältigen können.
Daher müssen wir Senior-Partner manchmal Feuerwehr
spielen. Ich habe schon mit Jordan gesprochen. Er wird
einen Teil von Almonds Fällen übernehmen. Den Rest
können wir mit Ach und Krach auf die Truppe verteilen.
Ich weiß, dass Du diese Großmandate hast und schon
seit Wochen praktisch durcharbeitest. Deshalb belästige
ich Dich auch sehr ungern, aber einen kleinen Fall
können wir einfach nirgendwo unterbringen. Eine
Strafsache. Würdest Du …?“
„Natürlich, Conrad. Das mache ich doch gern. Ich sehe
das als kleine Fingerübung für Zwischendurch. Außerdem
habe ich schon lange keinen Mörder mehr vor der
Giftspritze gerettet. Das wäre mal wieder eine
Abwechslung. Worum geht es?“
„Worum geht es?“
„Sexuelle Belästigung. Unser Mandat hat einer jungen
Frau beim Nacktbaden zugesehen, ihr die Kleider geklaut
und in ihren Slip … äh … Du weißt schon.“
Igitt! „Du machst Witze, oder? Ist das hier Candid
Camera oder willst Du mir allen Ernstes erzählen, dass
Lance Almond diesen Schwachsinns-Fall angenommen
hat.“
„Das hat er nicht. Es ist eine Pflichtverteidigung. Du
weißt, dass wir das von Zeit zu Zeit machen müssen, um
unsere Zulassungen nicht zu verlieren.“
Das konnte doch nicht wahr sein! „Ich soll einen
Spanner vertreten, der womöglich noch ein
Höschenfetischist ist? Als Pflichtverteidigerin? Da kannst
Du ja gleich Tiger Woods fragen, ob er mit Dir eine
Runde Minigolf spielt, oder Michael Schuhmacher, ob er
Dich bei einem Seifenkistenrennen mitnimmt.“
„Ich mag Dein gesundes Selbstbewusstsein, aber die
Genannten würden das ja womöglich machen.“
„Klar. Wenn die Gage stimmt. Über das Honorar für
eine Pflichtverteidigung müssen wir aber wohl nicht reden!
Davon könnte sich die dicke Wagner gerade mal ein paar
Donuts leisten.“
„Bitte?“
„Ach, schon gut. Das ist eine andere Geschichte. Wer
vertritt die Staatsanwaltschaft?“
„Rosalie Meyers.“
„Ha! Rosalie, die Gutmenschen-Kuh! Die wird bestimmt
versuchen, aus unserem Mandaten einen Vergewaltiger zu
machen, weil nach ihrer Auffassung sowieso alle Männer
Vergewaltiger sind. Wenn das so ist … dann mache ich
das. Aus Rosalie Meyers wollte ich schon lange mal die
Luft herauslassen. Jede Wette, dass es nicht zur
Hauptverhandlung kommt!“
„Doch. Kommt es. Die ist für morgen angesetzt.“
Mir verschlug es die Sprache. Nachdem ich sie
wiedergefunden hatte, meinte ich nur: „Almond kann sich
den Junior-Partner abschminken. Wer zu blöd ist, einen
solchen Fall vor der Hauptverhandlung abzuschmettern,
sollte sich einen anderen Beruf suchen. Naja. Hilft ja
nichts. Schick mir die Akte rüber!“
„Schick mir die Akte rüber!“
Als ich dann am Abend die Akte studiert hatte, war
mir erst recht schleierhaft, wie Almond es so weit hatte
kommen lassen können. Ich würde den Fall leicht
gewinnen und der unsäglichen Anomalie Meyers (wie sie
unter Kollegen gern genannt wurde) im Vorübergehen
eine deftige Abreibung verpassen.
Ich konnte ja nicht ahnen, dass dieser Prozess mein
ganzes Leben radikal verändern würde. |