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1 Schwarz

Ich hatte furchtbare Träume.

Hatte ich … oder hatte ich nicht … die schreckliche Estelle bei Rogers Party nach zwei Jahren wiedergesehen? Wir kannten uns von der High-School und Estelle war so etwas wie meine Erz-Feindin gewesen. Ich hatte ihr den Titel der Prom-Queen weggeschnappt … und Roger. Keine Ahnung, was der vorher an Estelle gefunden hatte. Naja, sie sah mir ein kleines bisschen ähnlich – die langen, blonden Haare, die durchtrainierte Figur mit straffen D-Körbchen und langen Beinen ließen wohl darauf schließen, dass wir beide Rogers Beuteschema entsprachen. Allerdings galt das in Bezug auf die meisten männlichen Wesen.

Es lief gut mit Roger. Es lief gut mit der Uni. Es fehlte mir an nichts.

Auf Estelle hingegen hätte ich gern verzichten können, aber sie wurde während der Party fast zu meinem Schatten.

Und dann passierte es:

Filmriss.

Und dieser nicht enden wollende Traum von Operationen, Intensivstationen, Krankenzimmern, Massagen, Verbänden … und vom Nebel, in den alles gehüllt zu sein schien.

Ich öffnete meine Augen und sah eine fremde, weibliche, schwarze Hand. Ich bewegte meinen Arm und die Hand bewegte sich mit. Ich ballte eine Faust und die Finger der Hand schlossen sich. Okay, dann ging der Traum wohl weiter. Selten blöd! Ich schloss meine Augen.

Ich hörte Geräusche. Keine Krankenhausgeräusche mehr. Straßengeräusche. Laut, aber gedämpft. Es war warm.

Ich öffnete erneut die Augen und die schwarze Hand war immer noch da. Seltsamerweise fühlte ich mich jetzt aber sehr wach.

Der Traum nahm reichlich realistische Formen an.

Vom Nebel war nichts mehr wahrzunehmen.

Warum träumte ich jetzt, schwarz zu sein?

Ich schloss meine Augen wieder. Zeit, aufzuwachen, Kelly-Anne Bancroft! Du bist eine weiße Frau und musst Dich auf die Prüfungen vorbereiten. Genug geschlafen und geträumt!

Ich musste wach sein!

Ich rutschte auf dem Bett herum. Alles fühlte sich irgendwie seltsam an.

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Erneut öffnete ich meine Augen. Die schwarze Hand war immer noch da. Sie lag auf einer ziemlich gammeligen Decke und bewegte sich, wenn ich meine Hand bewegte. Scheiß-Traum! Ich setzte mich auf.

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Wie absurd! In diesem Traum war ich eine Afro-Amerikanerin. Mein Körper hatte sich verändert. Statt meiner straffen D-Körbchen hingen reichlich schlaffe Säcke an meiner Brust und wo meine Fitness-Studio-Sixpacks sein sollten, war ein unförmiges Bäuchlein. Zu allem Überfluss schien ich in einer Windel zu stecken. Das war nicht lustig! »Fuck«, rief eine Stimme, die nicht meine war. Sie klang etwas heiser und schriller als meine. »Was soll der Scheiß?« rief ich und hörte dabei die fremde Stimme rufen: »Was soll der Scheiß?«.

Ich schüttelte meinen Kopf, um aufzuwachen, aber spürte meine Haare nicht auf meinen Schultern. Ich griff mir an den Kopf und spürte nichts als nackte, glatte Haut – nicht einmal Stoppeln! Dieser Scheiß-Traum fühlte sich so verdammt real an!

Ich sah mich in dem Raum um.

Hier war ich noch nie gewesen.

Alles wirkte total heruntergekommen. Ich stand auf. Beinahe wäre ich wieder ins Bett gefallen, denn meine Knie waren ganz weich. Wieso spürt man das in einem Traum?

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An ein Aufwachen war wohl vorläufig nicht zu denken. Bekanntlich ist die zeitliche Wahrnehmung in Träumen ja sehr unterschiedlich zur Realität. Wer konnte schon wissen, was ich während einer Stunde Schlaf in diesem Traum noch alles erleben würde? Irgendwann, so dachte ich, würde ich schon aufwachen und bis dahin konnte ich ja mal sehen, wie dieser absurde Traum weitergehen würde.

Ich war also eine schwarze, kahle Frau mit schlaffen Brüsten und Windel. Brauchte ich die? Ich fühlte mal nach und war erstaunt, wie echt sich die Feuchtigkeit in diesem Traum anfühlte. Ich war wohl nicht ganz dicht, dachte ich. Ich hielt meine Hand eine Weile an meinem – übrigens ebenfalls vollkommen haarlosen – Unterleib, aber immerhin schien ich nicht ständig zu tropfen. Somit suchte ich ein Badezimmer, um die feuchte Windel loszuwerden. Ich fand es hinter einer schäbigen Zimmertür und es war genauso ärmlich wie das Schlafzimmer.

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Was sollte mir dieser Traum sagen? Welche Versatzstücke aus meiner Realität setzte mein Unterbewusstsein hier zusammen, während ich schlief? Wollte ich mich selbst mahnen, mein doch sehr angenehmes und dank meiner Eltern gutsituiertes Leben höher wertzuschätzen?

Ich fand mich eigentlich gar nicht so verwöhnt – jedenfalls im Vergleich zu Estelle. War ich zu hochnäsig, zu oberflächlich? Bestrafte ich mich deshalb im Traum mit dieser Absteige und diesem unansehnlichen Körper? Und wie sah »mein« Gesicht aus? Da hing ein schäbiger Spiegel im Bad.

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Puh! Davon hätte ich eigentlich aufwachen müssen – dicke, wulstige Lippen, Piercings und nicht einmal Augenbrauen. Dafür war »ich« geschminkt und das sah verdammt nach Permanent-Make-Up aus! Am schlimmsten waren die Tattoos. Hatte ich eine unterbewusste Sehnsucht nach schmutzigem Sex? Warum sonst trug ich im Traum die Worte »Fuck Slut« unübersehbar am Hals und eine Aufforderung zur Vergewaltigung auf dem sichtlich gewölbten Bauch? Was sollte mir das riesige »Gangsta« mitsamt Pistole auf dem Arm sagen?

Hatte ich Vorurteile gegen Schwarze, dass sich mein Unterbewusstsein in dieser Weise eine Ghetto-Braut vorstellte? Warum sollte ich das sein? Was hatte es mit der Kahlheit auf sich? Ich war immer stolz auf meine blonde Mähne gewesen. War dieser Traum so eine Art Selbst-Kasteiung? Ich hatte mir doch gar nichts zu Schulden kommen lassen.

Oder?

Ich versuchte, die Piercings abzunehmen, aber da gab es keine Steckverbindungen. Ohrringe (drei auf jeder Seite) und Septum-Ringe (sogar zwei hintereinander) schienen aus einem Stück gefertigt und damit fest mit meiner Haut verbunden zu sein. Dieser Traum machte es mir nicht so leicht. Wenigstens konnte ich die Windel ablegen und in einen Plastikbehälter im Bad werfen. Ich wusch mich notdürftig, weil ich Angst hatte, schmutziger aus diesem Bad zu kommen, als ich hineingelangt war, und machte mich auf die Suche nach Kleidung.

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Es gab einen Kleiderschrank, der relativ gut gefüllt war – mit Windeln und Damenbinden in verschiedenen Formen und Stärken. Wies mich mein Unterbewusstsein damit womöglich auf eine bevorstehende Blasenentzündung hin? Im Sommer?

Daneben hingen ein ganzes Shirt, ein winziger Rock und – immerhin! – ein Basecap. Ich würde also nicht mit Glatze auf die Straße müssen … sofern dieser Traum mich überhaupt auf die Straße ließ. Unterwäsche war Fehlanzeige. Hm, dachte ich, jetzt hat sich mein Unterbewusstsein verraten, denn dieses Motiv konnte ich zuordnen: Roger wollte mich schon lange dazu bewegen, mal auf einen Slip zu verzichten, wenn wir unterwegs waren, aber ich hatte ihn bisher stets hingehalten. Vielleicht sollte ich ja mutiger sein?

Ein paar High-Heels fand ich im unteren Teil des Kleiderschranks. Niemals hätte ich in der Realität derart nuttige Dinger angezogen, aber hier kannte mich ja niemand. Also zog ich mich an und machte mich auf den Weg … wohin? Gab es in diesem Traum Schlösser und Schlüssel?

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So oder so war es bestimmt keine falsche Entscheidung, sämtliche Schränke und Schubladen zu durchsuchen und tatsächlich wurde ich in einer Art Nachttisch fündig. Dort gab es eine Handtasche samt Brieftasche. Leider fand ich kein Smartphone. Dafür lagen 20 Dollar in der Brieftasche, eine Kreditkarte auf den Namen »Candace Washington« sowie ein Personalausweis mit dem gleichen Namen und einem Foto, das exakt so aussah wie das Bild, das ich vorhin erst im Spiegel gesehen hatte. Nun war ich gespannt, ob das Haus, in dem ich mich befand, der Adresse auf der ID-Card entsprach. Mal sehen, wie gründlich mein Unterbewusstsein arbeitete! Einen Schlüsselbund gab es neben Schminkzeug in der Handtasche auch; also packte ich das ganze Zeug und machte mich auf, das Drecksloch zu verlassen.

Eine der Türen war die Wohnungstür und so fand ich mich in einem Treppenhaus wieder, das ich unter normalen Umständen nicht betreten hätte. Es wirkte wenig anheimelnd und roch nach Urin.

Ich verschloss die Tür von »meinem Apartment« und machte mich auf den Weg. Dabei hoffte ich, dass der Traum vorbei wäre, bevor ich dieses Drecksloch erneut aufsuchen müsste.

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