Das Ende der Freiheit - Der Nemesis-Zyklus, Band 4 Das Ende der Freiheit  
 
1. Freie Meinung

Ich soll meine Geschichte aufschreiben.

Ich darf schreiben, was ich will. Hm.

Das ist jetzt etwas ungewohnt für mich – nach so langer Zeit, in der ich keine Möglichkeit hatte, mich in irgendeiner Weise frei zu äußern.

Wo fange ich an?

Ich wurde vor sechsundzwanzig Jahren als Tochter eines erfolgreichen Schriftstellers und einer Immobilienmaklerin geboren. Meine Mutter starb bei meiner Geburt. So wuchs ich also bei meinem Vater und meiner Oma auf und bla, bla, bla ... Wie öde! Das würde meinem Papa bestimmt nicht gefallen.

Nein, ich finde, ich sollte mit meinem großen Fehler anfangen. Na ja, genau genommen sind es mindestens zwei Fehler. Oder noch ein paar mehr.

Mein Fehler heißt Falk. Ich nehme an, dass es eine Menge Frauen gibt, deren größter Fehler einen Männernamen trägt. Manchmal frage ich mich, ob ich nicht vielleicht doch „glimpflich davongekommen“ bin. Andererseits muss ich nur in einen Spiegel schauen und dann finde ich es keineswegs mehr glimpflich. Auf den ersten Blick mag es ja gar nicht weiter schlimm aussehen, aber das ganze Ausmaß dessen, was aus mir geworden ist, sieht man eben nicht gleich auf den ersten Blick.

Ich will nicht missverstanden werden – ich bin und ich war nicht das typische „Opfer“. Mit 19, als ich Falk kennenlernte, hatte ich schon einige Erfahrung. Ich war durchaus in der Lage gewesen, meine Interessen durchzusetzen, aber wenn erst die Hormone und dann auch noch die Gefühle aus irgendwelchen weiblichen Gehirnregionen ausbrechen, wird so manch kluge Frau zum naiven Dummchen.

Natürlich war ich naiv.
Natürlich war ich dumm.

Ich hatte damals zwei Probleme:

Problem Nummer eins: Der Kerl sah verteufelt gut aus, war charmant (jedenfalls am Anfang), witzig (sein kurioser Tod irgendwie inklusive) und ein sehr (sehr!) guter Liebhaber.

Problem Nummer zwei: Obwohl ich mich schon für emanzipiert hielt, hatte ich ein paar „Flausen“ im Kopf. Manchmal bin ich versucht, die meiner Oma anzulasten, aber das wäre unfair. Jedenfalls hatte ich wie viele Frauen meines damaligen Alters Schwierigkeiten, zwischen Sex und Liebe oder zwischen Verliebtsein und Liebe zu unterscheiden. Männer haben damit, denke ich, kaum Probleme. Dann glaubte ich tatsächlich irgendwie an den „Einzigen“. Niemand hat mir gesagt, dass, wenn es richtig kribbelt, das noch lange nichts bedeuten muss. Zu allem Überfluss hatte auch ich den „Mädchentraum“ – von der Hochzeit ganz in weiß, der Kutsche mit den weißen Pferden, dem über-die-Schwelle-getragen-werden und so weiter.

Ehrlich gesagt – wirklich geheilt bin ich davon trotz allem immer noch nicht.

Ich hatte eine gute Kindheit, aber so richtig kuschelig war es, sicher bedingt durch das Fehlen einer Mutter, nicht. Nun ist es nicht so, dass mein Vater irgendwie gefühlskalt gewesen wäre. Mit körperlichen Zärtlichkeiten hatte er allerdings nicht so viel am Hut. Dafür war dann schon mehr meine Oma zuständig gewesen.

Im Gegensatz zu einigen gleichaltrigen Mädchen blieb es für mich auch in der Pubertät eher kühl. Neidisch hörte ich mir so manche Teenie-Schwärmerei an. Wie süüüüß doch dieser oder jener Junge und wie verliebt doch das Mädchen gerade sei. Ich hatte zwar meine Techtelmechtel, aber Wolke sieben blieb für mich unerreichbar. Während meine Altersgenossinnen die Höhen und Tiefen ihrer ersten Lieben durchmachten, las ich (mangels anderer Gelegenheiten) lieber ein gutes Buch.

Erst mit 17 verstand ich, woran das lag.

Ich hatte damals einen Schwarm: Gernot aus dem Deutsch-Leistungskurs. Ich bemühte mich nach Kräften, ihm möglichst häufig über den Weg zu laufen und seine Aufmerksamkeit zu erregen. Ich stylte mich, kaufte mir scharfe Klamotten und dachte, irgendwann muss er mich doch ansprechen!

Das ging so bestimmt zwei Monate lang. Dann hatte ich die Nase voll und griff an.

Er stand gerade an seinem Spind und holte ein höchst unappetitliches Pausenbrot heraus.

„Das willst Du doch nicht wirklich essen, oder?“, meinte ich.

Sichtlich erschrocken ließ er den Fraß beinahe fallen und antwortete: „Wieso nicht? Das ist Leberwurst. Ich mag Leberwurst.“

„Ach. Ich dachte immer, Leberwurst hätte eine andere Farbe. Eine Leberwurstfarbe oder so. Aber Deine ist ja grau. Sieht eher aus wie ein Gehirntumor“.

Perfekt, Nadja, dachte ich. Genau so muss man es machen, wenn man einen Flirt starten will: Den designierten Flirtpartner zum Kotzen bringen. Ich hätte mich ohrfeigen können!

Gernot war nur kurz indisponiert. Dann drehte er das Brot hin und her und meinte: „Hm. Irgendwie stimmt das. Sieht tatsächlich nicht gerade frisch aus.“ Dann lächelte er.

Und wie er lächelte!

Er strahlte mich regelrecht an und das habe ich mir nicht eingebildet. Ermutigt ging ich zum Frontalangriff über: „In der Cafeteria haben die heute Pfannkuchen. Schön beige und gar nicht grau. Wie wär’s?“

Das Lächeln verschwand. Stattdessen klappte Gernots Unterkiefer leicht herunter. „Mit Dir? Ich meine, wir beide? Zum Essen?“

Oho, dachte ich, was hat er denn? Ich schätze, Pfannkuchen sind nicht gerade schockierend und ich fand mich doch recht ... akzeptabel. „Klar. Warum nicht?“

„Also ... ich, äh ...“, stotterte er herum, „ich hätte nicht gedacht, dass Du Lust haben könntest, mit mir in die Cafeteria zu gehen.“

„Wie meinst Du das?“, wollte ich wissen.

„Na ja, also ... ich meine, Du hast doch bestimmt genug Möglichkeiten außerhalb der Schule ..., also, mit Männern Essen zu gehen und so.“

Ich verstand nicht. „Was willst Du damit sagen?“

„Dein Freund hat vielleicht was dagegen, meine ich.“

„Ich bin solo.“

Sein Gesicht war ganz ernst, als er sagte: „Das kann nicht sein. Du doch nicht.“

„Wieso ich nicht?“

„Na, hör mal! Du bist doch hier der totale Männerschwarm. Was glaubst Du denn, was bei meinen Kumpels alles so abgeht! Es traut sich nur keiner, Dich anzusprechen. Wenn ich jetzt mit denen wette, ob Du mit mir ... also, wenn ich noch Zeit habe, bevor wir in die Cafeteria gehen, dann gewinne ich jede Menge Kohle. Wir teilen. Okay?“

Adieu Schmetterlinge! Es war schön, Euch zu haben, aber schon seid Ihr wieder weggeflogen.

„Vergiss es!“ Ich drehte mich um und ging. So ein Depp!

Dadurch lernte ich, dass ich nicht zu hässlich war, sondern zu hübsch. Wie absurd! Dann würde ich eben auf einen mutigen Mann warten müssen.
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