Stahlwerk - Mehr als ein „Ring, sie ewig zu binden“ Stahlwerk  
 
1: Der Unfall

Sie kannte seine Vergangenheit.

Eigentlich fand Helen Männer mit Geheimnissen durchaus spannend, aber ein „seriöser“ Geschäftsmann mit einem auffälligen Tattoo – das hatte doch ihre Neugier geweckt.

Randy hatte ihr alles erzählt. Das glaubte sie zumindest. Seine Vorliebe für schnelle Motorräder störte Helen nicht. Sie genoss es, als seine Sozia schöne Ausflüge zu unternehmen und ein Gefühl der Freiheit zu genießen, das sich nie einstellt, wenn man eine Karosserie um sich und womöglich auch noch ein Dach über sich hat.

Ein Mann Anfang 30 hatte jedes Recht auf ein derartiges Hobby, dachte sich Helen. Sie fand es nicht ungewöhnlich, dass Randy vor Jahren Mitglied in einem Motorradclub gewesen war, deren Mitglieder das Tattoo als eine Art „Ausweis“ trugen.

Nun, Randy wurde älter und mit Ende 20 wollte er sich in seinem Beruf verwirklichen und hatte, wie er sagte, einfach keine Zeit mehr, in jeder freien Minute den „Rocker zu spielen“.

Wie es möglich war, dass man als Programmierer in einer Softwarefirma in relativ jungen Jahren ein derart stattliches Vermögen zusammentragen konnte, wie Randy es offenbar sein Eigentum nannte, gehörte zu den Fragen, deren Beantwortung Helen nicht gar so wichtig erschien.

Auch nach knapp einem Jahr Beziehung zog Helen vor, lediglich die Früchte des Vermögens ihres Freundes zu ernten. Das BMW-Cabrio, das er ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, war eine solche „Frucht“.

Sie hätte vielleicht besser fragen sollen.

Randys Eltern waren nette, einfache Leute. Seine Mom war von Helen begeistert, zumal sie glaubte, dass es das Verdienst der hübschen, jungen Freundin war, dass ihr Sohn endlich bereit schien, sein Leben mit angemessener Ernsthaftigkeit anzugehen.

Mit 22 hatte Helen bereits ihre eigenen Eltern verloren. Ihre Mutter war schon vor fünf Jahren an Krebs gestorben und ihr Vater, ein Trucker, war bei einem Unfall ums Leben gekommen; ungefähr drei Monate, bevor Helen Randy kennengelernt hatte. Helens „Schwiegereltern“ stellten einen ganz netten Ersatz dar und sie besuchte sie gern, obwohl sie jedesmal eine weite Strecke quer durch die Pampa zurücklegen musste. Mit dem neuen Cabrio war das aber das reinste Vergnügen.

„Ich denke, bis zum Abendessen bin ich wieder zurück“, meinte sie.

„Von mir aus können wir uns stattdessen über den Kuchen meiner Mutter hermachen. Vergiss ihn bloß nicht!“

„Den? Niemals! Ich bin mindestens so verrückt danach wie Du. Wie ich Deine Mom kenne, hat sie wahrscheinlich wieder zwei volle Bleche gemacht und wir werden uns mit dem Zeug vollfressen.“

„Na, toll! Du nimmst ja nicht zu und ich werde fett. Ich sollte das nicht tun.“

„Hahaha, dafür kann ich doch nichts, dass Du Dich zu wenig bewegst. Du solltest mal zum Training mitkommen, Schatz.“

„Wenn Du Deinen Gymnastikanzug mit dem String anziehst und auf die Strumpfhose verzichtest, überlege ich es mir vielleicht.“

„Ich könnte ja gleich nackt turnen.“

„Super! Dann komme ich mit und mache auch ein paar Verrenkungen … auf Dir.“

„Das würde Dir so passen! Das mit den Verrenkungen könnten wir ja auch zu Hause machen, hm?“

„Jetzt gleich?“

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„Jetzt gleich?“

„Dann komme ich zu spät. Deine Eltern würden sich Sorgen machen. Du weißt doch, wie sie sind.“

„Ich kann sie anrufen.“

„Lass‘ mal! Morgen ist Sonntag. Da haben wir jede Menge Zeit, uns zu vergnügen … wenn Du Dich nicht am Kuchen überfrisst.“

„Dann habe ich wenigstens einen Grund, mich damit zurückzuhalten.“

„Hahaha, das schaffst Du nicht, wetten?“

„Kommt darauf an, wie Du mich davon abhältst. Du könntest mal wieder dieses winzige, durchsichtige Teil anziehen, das ein Slip sein soll. Du weißt schon …“

„Mal sehen. Willst Du wirklich nicht mitkommen?“

„Zuviel Arbeit. Wenn ich mich heute nicht an den PC setze, habe ich morgen keine Zeit, mich um Dich zu kümmern.“

„Zu ‚kümmern‘? Aha. Das ist ein Argument. Also gut. Ich versuche, den Kaffee schnell zu trinken … falls Deine Mom mich überhaupt wieder gehen lässt, heißt das.“

„Sag ihr einfach, dass ich nach dem Kuchen auch noch Dich vernaschen muss. Das versteht sie schon.“

„Pffft! Das kannst Du ihr selbst sagen.“

„Okay. Ich rufe sie nachher an.“

„Ha! Im Leben nicht! Ich muss los. Sehe ich brav genug aus?“

„Schön konservativ. Meine Eltern werden Dich noch mehr lieben. Tschüss, Liebes. Bis später. Ziehst Du Dich gleich um, wenn Du zurück bist?“

„Wenn Du gaaanz lieb bist … vielleicht.“

Lachend verließ Helen das Apartment.

Sie holte den BMW aus der Tiefgarage, öffnete das Dach, setzte sich eine Mütze auf und fuhr bester Laune los. Den restaurierten und aufgemotzten 71er Pontiac, der ihr folgte, bemerkte sie nicht.

Helen hatte die Stadt verlassen und befand sich auf einer menschenleeren Landstraße. Dieser Teil der Strecke war ziemlich langweilig, aber mit guter Musik von CD, dem sommerwarmen Fahrtwind im Gesicht und der Aussicht auf einen erotischen Sonntag machte es ihr nichts aus.

Auf der graden Straße sah sie schon von weitem das Glänzen am Straßenrand. Sie verlangsamte die Geschwindigkeit und erkannte im Näherkommen ein umgestürztes Bike. Da war noch etwas.

Es lag zum Teil auf der Straße.

Eine Gestalt.

Ein Mensch.

Mist!

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Mist!

Da war jemand mit dem Motorrad gestürzt. Der Fahrer schien bewusstlos zu sein. Helen hielt den Wagen an und stieg aus.

Die Gestalt auf der Straße bewegte sich nicht.

Mühsam versuchte Helen, sich zu erinnern, was in einer solchen Situation zu tun war. Für einen Moment stand sie im Begriff, ihr Handy aus der Handtasche zu holen, aber die hatte sie auf den Beifahrersitz gelegt.

Wieder zurück zum Auto?

Erst mal nachsehen, dachte sie.

Sie fädelte ihren Pferdeschwanz aus der Öffnung der Mütze und warf diese zurück ins Auto. Dann ging sie zu der leblosen Gestalt auf der Straße.

Im Näherkommen erkannte Helen, dass der Körper eindeutig weiblich war.

Dann regte sich etwas.

Helen eilte auf die Frau zu.

„Mein Gott! Sind Sie verletzt?“

Die Motorradfahrerin schien zu versuchen, sich aufzurichten.

„Warten Sie! Ich helfe Ihnen“, rief Helen, als die Frau sich auch schon umdrehte. Sie hielt plötzlich einen Gegenstand in der Hand, der wie eine Dose Deospray aussah. Als Helen nah genug war, drückte die Frau auf einen Knopf an der Dose und sprühte einen Nebel direkt in Helens Gesicht.

Es war, als würden Helens gesamte Muskeln mit einem Schlag aufhören, zu funktionieren.

Im Fallen sah sie noch, wie sich aus der Richtung, aus der sie gekommen war, ein lila Muscle-Car näherte. Ihre Sicht verschwamm, aber sie konnte noch hören.
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