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1: Die Alternative

„Sehen Sie sich das an!“

Was meinte sie? Die grässliche Frisur? Den Wanst? Das feiste Gesicht? Das selten blöde, auf jugendlich designte, aber nur lächerlich wirkende Shirt?Oh je! Das Ding war ganz klar ein Stück von Jean-Luc Frottier. Das hatte Mrs. Pferdearsch dann wohl in unserem Laden gekauft. Naja - „mein“ Laden war das nicht. Ich jobbte da nur, um mein Studium mehr schlecht als recht zu finanzieren.

„Sie tragen ein ganz entzückendes Shirt von Frottier.“

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„Sie tragen ein ganz entzückendes Shirt von Frottier.“

Das hat Ihre Kollegin auch gesagt. Mein Mann findet, ich sehe darin aus wie eine Presswurst“

Ich hasste diesen Job. Ich musste den ganzen Tag in Klamotten herumlaufen, die ich mir nicht selbst ausgesucht hatte. Am schlimmsten waren die Schuhe. Nach jeder Schicht hatte ich das Gefühl, gerade den New York Marathon gelaufen zu sein. Diese Dinger waren fast so schlimm wie reklamierende Kunden.

Diese Kundin hatte offenbar einen ehrlichen Mann. In manchen Dingen ist zu viel Ehrlichkeit aber nicht das, was Frauen wollen. Besonders für Leute mit gestörter Selbstwahrnehmung kann das zum Problem werden. Diese Kundin sah nicht nur aus wie eine Presswurst – sie sah aus wie eine Presswurst, die gleich platzt.

Immer nett, immer höflich und nie widersprechen – Scheiß-Job! Nett und höflich hätte ich es gefunden, der Frau zu sagen, dass es auch für Dicke tolle Klamotten gibt und sie damit bestimmt sehr hübsch aussehen könnte. Tja. Das wäre außerdem ehrlich gewesen – angesichts der Tatsache, dass „unser“ Laden aber keine 4XL-Ware führte, jedoch leider auch geschäftsschädigend. Genau da lag die Grenze. Genau da wurde es plötzlich „nett“, die Kunden zu belügen und zu verarschen.

Ich war auf diesen Job angewiesen.

„Sie sehen bezaubernd aus, Ma’am. Leider nützt es aber nichts, wenn die ganze Welt und ich das so sehen. Ihrem Mann gefällt es nicht. Männer sehen manche Dinge leider ganz anders. Da können wir nichts machen … außer, Ihnen selbstverständlich einen Umtausch zu ermöglichen.“

Alle Regeln beherzigt, Julie, dachte ich: Nett geblieben, der Kundin nicht widersprochen, die Kollegen nicht in die Pfanne gehauen, die eigene Ware nicht schlechtgemacht, mit der Kundschaft solidarisiert und eine für das Geschäft akzeptable Lösung gefunden. Ich klopfte mir innerlich auf die Schulter … und atmete auf, als die Fette erst in die Umkleide und dann zur Kasse watschelte, um das Presswurst-Shirt zurückzugeben. Warum hatte sie das überhaupt angezogen? Um mich zu überzeugen? Aus Masochismus? Aus Trotz gegen ihren unhöflichen Mann?

Mir konnte das egal sein.

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Mir konnte das egal sein.

Ich hatte nur noch zehn Minuten zu überstehen, bis mein Chef, Mr. Glover, der Leiter dieser „Bad-Girl“-Filiale, auftauchen und den Laden für heute schließen würde. Der Tag war ganz gut gelaufen und ohne die Retoure von Mrs. Presswurst hätten sich die Einnahmen noch besser gemacht. Naja, Mr. Glover verdiente nicht schlecht.

Das konnte ich von mir leider nicht behaupten. Natürlich war ich keine ausgebildete Verkäuferin und konnte daher auch kein entsprechendes Gehalt erwarten, aber der Hungerlohn, mit dem Studentinnen gemeinhin abgespeist wurden, reichte gerade mal für ein Dach über dem Kopf. Essen und Trinken finanzierte ich mir mit einem Kellner-Job an den Wochenenden. Es soll ja Leute geben, die ihr ganzes Leben vom Studentendasein schwärmen und allerlei lustige Anekdoten zu erzählen haben. Die sind entweder Vorkriegsgeneration, hochbegabte Stipendiaten oder ohnehin hauptberuflich Sohn oder Tochter.

Ich gehörte zu keiner dieser Gruppen.

Caren zählte sich auch nicht dazu.

Caren war schon seit der Schulzeit meine beste Freundin und tauchte an diesem frühen Abend noch vor Mr. Glover im Laden auf.

Sichtlich aufgeregt eilte sie auf mich zu und meinte: „Du musst Julie sein. Das steht da.“ Caren wusste, wie sehr ich diese Namenshalsbänder hasste und nutzte jede Gelegenheit, mich damit aufzuziehen – sogar in ihrem aufgewühlten Zustand.

„Genau“, antwortete ich. „Willkommen bei ›Bad Girl‹, wo sich auch die letzte Spießerin einmal wie ein freches, lebenslustiges Mädchen fühlen kann. Für ein paar Dollar tauschen Sie Kind, Küche und Kirche bei uns gegen Glitter, Glamour und Gleitcreme.“

Caren lachte. „Wow! Gnädigste geruhen, heute einen besonders Poetischen zu haben. Zu viel Zeit zum Ausdenken von Sprüchen, hm?“

„Galgenhumor, Caren. Das weißt Du doch.“

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„Das weißt Du doch.“

Caren hatte es nicht leichter als ich – im Gegenteil. Es ging ihr finanziell noch schlechter als mir, weil sie nicht nur ihr Studium finanzieren musste, sondern zusätzlich noch regelmäßig Geld nach Hause zu ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder schicken musste. Carens Dad, ein Säufer, war von zehn Jahren, kurz nach Robs Geburt, abgehauen und hatte die Familie mit einer baufälligen Farm und ohne Krankenversicherung im Stich gelassen. Carens Mutter hatte Kinder und Farm gerade ganz gut hinbekommen, als Robs Diagnose kam: Mukoviszidose. Carens Geld wurde hauptsächlich dafür gesammelt, um Rob so häufig wie möglich Aufenthalte am Meer zu ermöglichen. Dort ging es ihm unvergleichlich besser. Jeder weitere Cent, der nicht unbedingt verbraucht werden musste, kam auf ein Konto, mit dem irgendwann ein kompletter Umzug finanziert werden sollte.

Ich hatte Carens Familie ein paar Mal besucht und den kleinen Frechdachs Rob in mein Herz geschlossen. Nur sehr selten nahm Caren jedoch ein paar Dollar von mir an. Sie wusste, dass ich selbst darauf angewiesen war. Ich wollte gern auch etwas für ihren Bruder tun, doch Caren ließ es nur zu, wenn sie richtig krank war und unmöglich in die Fabrik gehen konnte. Sie reinigte nämlich im 3-Schicht-System Druckmaschinen. Das war der bestbezahlte Job für Studentinnen. Sie verdiente deutlich mehr als ich, musste weder in quietschgelben, bauchfreien Klamotten herumlaufen, noch sich die Zehennägel gelb lackieren, hatte immer einen ganzen Tag in der Woche frei und … war nach jeder Schicht fix und fertig, denn es war ein echter Knochenjob. Ohne die Motivation „Rob“ hätte sie das niemals durchgehalten.

Weil ich wusste, wie hart das alles für Caren war, hielt ich mich mit Jammerorgien über schmerzende Waden und Fußballen aufgrund zu langen Tragens hoher Absätze zurück und beschränkte meine Schimpfkanonaden über die Firma und den geilen, alten Sack Mr. Glover auf das zur Vermeidung einer Depression unbedingt Erforderliche. Für die gemeinsame Unterhaltung war Lästern manchmal allerdings sehr angenehm.

Ich kannte Carens Schichtplan und wunderte mich. „Hast Du nicht heute Spätschicht? Was machst Du hier?“

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„Was machst Du hier?“

„Ich habe gekündigt.“

„Du hast … was?!“

Caren grinste. „Erinnerst Du Dich an Bertram Smallwood?“

„Bertram Eierkopf Smallcock? Dieser Professor, mit dem Du Dich vor etwas über einem Jahr mehr oder weniger … wohl eher weniger … vergnügt hast? Du willst mir nicht wirklich erzählen, dass Du wieder mit dem zusammen bist, oder?“

„Natürlich nicht. Der ist immer noch mit seiner komischen Trulla verheiratet, aber ich dachte … naja … irgendwie ist der mir noch was schuldig.“

„Caren, das ist nicht Dein Ernst!“

„Wie… ach so!“ Caren lachte. „Nein, Du weißt doch, dass ich nicht so bin. Es ist mir egal, ob seine Tussi etwas von der Sache damals erfährt. Bertram ist mir egal … inzwischen jedenfalls. Nein, ich erpresse ihn nicht. Ich habe eine andere Möglichkeit gefunden, dass er … sagen wir mal … etwas für mich tun kann.“

„Ich bin ganz Ohr.“

„Du weißt, dass Bert eine ganz große Nummer an der medizinischen Fakultät ist, nicht wahr?“

„Klar. Ich verstehe aber bis heute nicht, dass Dich das so angemacht hat, um Dich mit diesem eitlen Pfau einzulassen.“

„Mann, Julie! Ist ja gut! Als ob Du nie mit dem Falschen rumgemacht hättest! Jetzt hör zu! Also, die machen da solche Forschungsreihen. Im Moment läuft da eine ganz große Sache. Es geht um Altersforschung.“

„Moment! Bevor Du mir die Einzelheiten erzählst – Du meinst, Du willst Dich als Versuchskaninchen für Deinen Ex-Lover verdingen? Wenn das mehr bringen soll als Dein Job in der Druckerei – was musst Du denn dafür tun? Dich mit BSE impfen lassen und dann wird geschaut, wie lange es dauert, bis Du Deinen Namen vergessen hast?“

„Quatsch! Ich sagte doch schon, dass es um Altersforschung geht.“

„Also Alzheimer statt BSE.“

„Julie! Hast Du zum Beispiel mal etwas von einem ›Aging-Suit‹ gehört? Die Automobilindustrie wendet das an.“

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„Die Automobilindustrie wendet das an.“

„Ja, klar. Damit wird Testpersonen das Gefühl gegeben, alt zu sein und zu erleben, wenn man mit steifen Gelenken, schwachen Muskeln oder verzögerter Reaktion versucht, ein Auto zu fahren. Auf diese Weise werden die Fahrzeuge besser den Bedürfnissen alter Menschen angepasst. Musst Du dann mit einem Rollator herumlaufen?“

„Das wäre beim Einkaufen vielleicht gar nicht so unpraktisch. Nein, Julie, das war nur ein Beispiel, um Dir grob zu erklären, worum es geht. Das ist ein Ausschnitt. Die ganze Sache hat eine viel größere Tragweite. Es geht bei diesen interdisziplinären Forschungen nicht nur um alte Menschen. Auch junge Leute haben besondere Bedürfnisse. Denken wir allein an Kinder! Das Problem bei diesen Forschungen ist, dass wenig Brauchbares herauskommt, wenn man die jeweiligen Gruppen selbst von ihren Erfahrungen berichten lässt. Für uns ist das normal, bei einer eingefroren grinsenden Schlagerfratze im TV wegzuzappen. Für eine 80-Jährige ist es womöglich normal, es nicht zu tun und die begreift gar nicht, warum wir kotzen würden. Das Aging-Suit ist wichtig, weil es eben nichts bringt, einen sehr alten Autofahrer zu interviewen. Der findet es normal, mit 20 Meilen pro Stunde über den Highway zu fahren, weil es für ihn alltäglich ist, dass er schlecht sieht und langsam reagiert. Nimmst Du aber einen 25-Jährigen mit Aging-Suit, dann kann der Dir ganz genau sagen, was abgeht, wenn man sich nicht richtig bewegen kann, wenn man langsam ist und die anderen Fahrer im Berufsverkehr drängeln, weil sie schnell nach Hause wollen.“

Das leuchtete mir ein. „Verstehe. Was ist dann Deine Aufgabe?“

„Das Teenie-Programm. Was genau da abgeht, weiß ich noch nicht, aber das dürfte keine allzu große Herausforderung werden. Das ist ja gerade mal ein paar Jahre her. Jetzt halte Dich mal an Deinem Tresen hier fest! Du glaubst nicht, was die dafür zahlen: Für ein Jahr Programm übernehmen die sämtliche Kosten meines weiteren Studiums plus 500 Dollar die Woche für fünf Jahre. Wenn ich nach dem Jahr wieder in die Druckerei gehe, ist Rob am Meer, bevor er 15 ist. Julie, das ist der Hauptgewinn!“

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„Julie, das ist der Hauptgewinn!“

Ich rechnete kurz nach. „Du meinst, die zahlen Dir … wenn man die Kosten des Studiums halbwegs realistisch einschätzt … eine Summe irgendwo zwischen 150 und 200 Tausend Dollar dafür, dass Du denen ein Jahr lang erzählst, wie es ist, ein Teenager zu sein? Caren, da verarscht Dich jemand.“

„Nein, nein, so einfach ist das nicht. Die verlangen, dass man ein Jahr lang rund um die Uhr in der jeweiligen Kategorie lebt.“

„Ach so! Wie soll das gehen? Jeden Tag um Zehn ins Bett und auf die Junior High gehen?“

„Ich weiß nicht, ob die mich echt wieder zur Schule schicken, aber möglich wäre das, glaube ich.“

„Sollst Du dann mit 23 so tun, als wärest Du 13 oder 14? Na, die kleinen Jungs werden auf ihre Kosten kommen, nehme ich an, hihi. Mal ehrlich, Caren: Dafür bezahlt doch niemand solche Riesensummen.“

„Naja … die … äh … soweit ich das bisher gehört habe, zwingen die ihre Testpersonen wirklich dazu. Also … wer in die Teenie-Gruppe geht, darf zum Beispiel nicht ins Porno-Kino gehen und bekommt keinen Alkohol. Die sind da ganz schön rigide, damit die Ergebnisse nicht verfälscht werden.“

Ich schüttelte meinen Kopf. „Ich weiß nicht. Wenn ich Dich auf ein paar Spaghetti einlade, trinke ich den Frascati und Du kriegst nur Milch? Wie wollen die das kontrollieren. Na, egal. Nehmen wir mal an, das ist alles genau so, wie Du sagst – dann stelle ich mir das eher spaßig vor. Für eine solche Summe würde ich glatt auch mitmachen.“

Caren lächelte mich schweigend an.

„Nee, ne?“ Mehr fiel mir im Moment nicht ein.

„Doch. Ich sagte doch, dass Bert mir was schuldig war. Die haben eine Warteliste für drei Jahre. Da wurden nun urplötzlich zwei Plätze ganz oben frei. Du kannst Deinem Mr. Glover gleich, wenn er kommt, sagen, dass er künftig selbst in gelben Klamotten durch seinen Laden stöckeln kann.“

„Damit warte ich lieber, bis ich die Verträge mit den Leuten Deines Bertram Smallcock gesehen habe. Wow! Danke, Caren. Das könnte eine echte Alternative sein.“

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„Das könnte eine echte Alternative sein.“


2: Der Vertrag

Das Gespräch mit Caren endete abrupt, als Mr. Glover eintraf. Er mochte kein „Gewäsch“, ich mochte ihn nicht und Caren mochte den Gedanken nicht, mich in Schwierigkeiten zu bringen. Letzteres wurde auch nicht durch den Umstand berührt, dass Caren glaubte, ich wäre Mr. Glover, seinen Laden und die gelben High-Heels bald los.

Kurz nach Feierabend rief ich meine beste Freundin an, weil ich natürlich noch mehr wissen wollte. Caren war aber gerade auf dem Weg zu ihrer Mom und Rob und daher teilte sie mir lediglich mit, dass schon am nächsten Tag ein Treffen mit einem Mitarbeiter der Forschungsgruppe anstand, den ich dann mit meinen Fragen würde löchern können.

So kam es auch.

Der Mann aus dem Forscherteam, ein Mr. Greenbaum, empfing uns in einem Besprechungszimmer der medizinischen Fakultät und wirkte freundlich und aufgeschlossen. Nachdem er uns Getränke (wir lehnten beide ab; wir hatten echte Mädchenblasen und Wasser oder Kaffee auf der einen und eine solche Aufregung auf der anderen Seite - das war weder Caren noch mir geheuer) und zwei Stühle angeboten hatte, kam er zur Sache: „Professor Doktor Smallwood hat Sie für die nächste Probandengruppe vorgeschlagen. Das spricht für eine gewisse Dringlichkeit. Schön, dass Sie gleich heute kommen konnten.“

„Das ist doch selbstverständlich, Dr. Greenbaum“, meinte Caren beflissen.

„Nicht ›Dr.‹. Ich bin weder Mediziner, noch habe ich bisher promoviert. Ich bin Sozialanthropologe. Wir kommen hier aus ganz verschiedenen Zweigen. Das macht unsere Arbeit enorm spannend und fruchtbar.“

„Ja, das finden wir auch“, schleimte Caren weiter. Einerseits fand ich es seltsam, weil ich sie sogar nicht kannte. Andererseits ging es um ihr Studium und die Gesundheit (womöglich sogar das Leben) des kleinen Rob. Natürlich würde sie alles dafür tun.

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Natürlich würde sie alles dafür tun.

„Sie haben ja sicher eine grobe Vorstellung davon, was wir hier tun. Wir lassen Menschen mit normal entwickelten Fähigkeiten erleben, wie es ist, mit altersbedingten Einschränkungen zu leben. Das gilt für die Zeit, in der diese normalen Fähigkeiten allmählich abnehmen, ganz genauso wie für die Zeit, in der diese Fähigkeiten erst entwickelt werden müssen. Unsere Probanden erleben dies mit dem Verstand ihrer ›besten Jahre‹ und berichten uns. So gewinnen wir Erkenntnisse, die von unschätzbarem Wert für unsere Gesellschaft und für das Zusammenleben schlechthin sind. Stellen Sie sich nur einmal vor, was es bedeutet, wenn ein spielendes Kind berichtet, warum es ein Gerät auf dem Spielplatz gegenüber einem anderen bevorzugt und dies mit dem klaren Verstand eines Erwachsenen formuliert. Wir können Gefahrenquellen beseitigen, Lebensqualität verbessern…“

„… und der Industrie genau sagen, welcher Grießbrei sich aus welchem Grund am besten verkaufen lassen wird“, konnte ich mir nicht verkneifen, einzuwerfen.

„Genau. Das ist besonders wichtig, weil es die Basis der Finanzierung unserer Forschung darstellt.“

Mr. Greenbaum war kein Schwätzer. Sein gelungener Konter zeigte mir, dass er wusste, wovon er sprach. Er gab sich auch nicht als weltfremder Menschenfreund. Mein Vertrauen wuchs allmählich.

„Wir haben Sie für die Phase der beginnendenPubertät vorgesehen. Wir brauchen noch ein paar medizinische Untersuchungen und Ihr Einverständnis mit den Grundlagen der Testreihe. Das sollte innerhalb der nächsten 14 Tage zu erledigen sein.“

„Wie läuft die … Testreihe denn dann ab?Ich meine … von einem Aging-Suit habe ich ja schon gehört. Gibt es auch ein ›Anti-Aging-Suit‹? Sollen wir das dann ein ganzes Jahr tragen? Wie funktioniert das?“

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„Wie funktioniert das?“

Greenbaum lächelte. „Nein, nein, derartige Hilfsmittel verwenden wir hier nicht. Ich bin kein Mediziner. Professor Doktor Smallwood kann Ihnen das weit besser erklären. Lassen Sie es mich daher laienhaft formulieren: Wir arbeiten mit sogenannten ›Synapsen-Blockern‹ auf der einen und Hormonpräparaten auf der anderen Seite.“

„Hormone? Mir reicht die Pille schon.“ Die letzte Eröffnung hatte mir überhaupt nicht gefallen.

„Sie können die Pille mit einem groben Instrument vergleichen. Wir arbeiten hingegen mit feinsten Pinzetten. Alles, was in unseren Gehirnen abläuft, basiert auf chemischen Prozessen, die mit Botenstoffen gesteuert werden. Bei diesen Botenstoffen handelt es sich unter anderem um Hormone[1].“

„Sie greifen in die Hirnchemie Ihrer Testpersonen ein? Ist das nicht gefährlich?“

„Wir haben vor fast genau 30 Monaten mit den Feldversuchen angefangen. In keinem einzigen Fall kam es zu Komplikationen. Das liegt daran, dass wir nichts ›Künstliches‹ tun. Wir bilden mit natürlichen Stoffen Prozesse nach, wie sie sich ohnehin in menschlichen Gehirnen abspielen. Wir lassen eine Testperson ›altern‹ oder wir ›verjüngen‹ sie. Das aktuelle Bewusstsein bleibt erhalten, aber bestimmte Fähigkeiten werden blockiert. Mit einer gezielten Synapsen-Blockade können wir verhindern, dass das Gehirn der Testperson auf erlerntes Wissen zugreift. Das Wissen bleibt aber erhalten. Nach Ablauf des Versuchszeitraumeswird die Blockade aufgehoben und die Funktionalität wiederhergestellt. Es gibt weder Gefahren, noch Nebenwirkungen. Während des Versuchs jedoch gibt es keine Möglichkeit, blockierte Synapsen zu aktivieren.“

Endlich hatte auch Caren mal eine Frage: „Was heißt das konkret für die Altersgruppe der … äh … Teenies?“

„Sie werden auf die Kenntnisse, die Sie seit dem Versuchsalter erworben haben, nicht zugreifen können. Ein Beispiel: Die Muster, die Sie für das Fahren eines Autos erworben haben, werden blockiert. Es wird sein, als hätten Sie nie eine Fahrschule besucht. So sorgen wir für eine realistische Versuchsanordnung.“

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„So sorgen wir für eine realistische Versuchsanordnung.“

Das leuchtete mir nicht ein. „Worin besteht dann der Sinn? Wenn ich nicht weiß, dass ich nicht Autofahren kann, dann kann ich auch nicht darüber berichten, wie es sich anfühlt. Was ist mit den Alten? Wenn die ihre Reaktionsgeschwindigkeiten für normal halten, können sie nichts darüber aussagen, wie sich eine verlangsamte Reaktion auswirkt. Dann können Sie gleich ›echte‹ Teenager und Greise für die Versuche nutzen.“

Greenbaum lächelte und blieb geduldig. „Dann habe ich mich nicht richtig ausgedrückt. Wie gesagt – ich bin kein Mediziner. Unsere Probanden finden es eben nicht ›normal‹. Sie wissen, dass sie die Fahrschule besucht haben, oder normalerweise sportlich und reaktionsschnell sind. Sie können diese Dinge lediglich nicht mehr abrufen. Als Frühpubertierende werden Sie gewissen … emotionalen Schwankungen als Folge der hormonellen Stimulation der jeweiligen Hirnareale ausgesetzt sein. Sie werden wissen, was passiert und können somit als ›Erwachsene‹ darüber berichten, wie sich eine einsetzende Pubertät anfühlt. Wir hoffen, mit diesen Erkenntnissen in Zukunft psychische Erkrankungen wie zum Beispiel Störungen des Essverhaltens bekämpfen zu können, bevor sie zum Problem werden.“

„Das klingt gut“, gab ich ehrlich zu, „aber gehört dazu nicht auch ein soziales Umfeld? Sie werden ja kaum unsere Eltern ›verjüngen‹ können oder uns in die Schule schicken.“

„Für die ›Nicht-Erwachsenen‹ verfügen wir über Päda-gogen, die während der Versuchszeit im Rahmen der Erfordernisse die Aufgaben von Erziehungsberechtigten wahrnehmen. Die Versuchsanordnung ›Schule‹ scheitert leider schon an den besonderen Fähigkeiten des menschlichen Gehirns. Sprechen wir es mit dem Erwerb von Wissen an, wird es trotz blockierter Synapsen Wege finden, andere Zellbereiche damit zu besetzen. Sie haben sicher schon davon gehört, dass sogar schwere Gehirnschäden ausgeglichen werden können, weil gesunde Zellen die Funktion der zerstörten Areale übernehmen. Da wir nichts ›löschen‹, würde ein Schulbesuch kontraproduktiv für die Testreihe sein.“

„Schade“, meinte Caren.

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„Schade.“

Ich wunderte mich über meine Freundin, aber ich wollte auf keinen Fall vor diesem Mr. Greenbaum eine Diskussion anzetteln. „Ich glaube, es kann auch ohne Schule nützliche Testergebnisse bringen“, versuchte ich, Carens Bemerkung vergessen zu machen.

Die ließ jedoch nicht locker. „Ich hatte mich schon auf ein paar knackige 16-18-Jährige gefreut. Erwachende Libido pubertierender Mädchen gehört doch sicher auch zum ›Programm‹, oder?“

Greenbaum räusperte sich. „Ähem … also … wir legen auf eine möglichst realistische Versuchsanordnung großen Wert.“

Caren grinste. „Naja, in den Ferien können wir bestimmt auch ein paar nette Jungs kennenlernen. Wenn diese Ferien ein ganzes Jahr dauern … womöglich finden wir da sogar große Jungs mit Auto, damit die uns in der Gegend herum kutschieren können– zum Eisessen, ins Kinderkino oder zu Burger Swing.“

Nun lächelte auch Mr. Greenbaum. Ich hatte Carens Späße erst kurz vor ihm verstanden. Er wirkte erleichtert. „Es ist schön, dass Sie sich schon jetzt in die Testreihe einzufühlen versuchen, aber das brauchen Sie nicht. Im Gegenteil – wir wollen keine Schauspielerei. Sie werden feststellen, dass Ihr Verhalten ganz automatisch der Versuchsanordnung entsprechen wird, aber dies quasi aus heutiger Sicht beobachten und später berichten können. Sie müssen nichts weiter tun, als sich an die Anweisungen zu halten.“

„Was passiert, wenn wir das nicht tun? Aus Versehen, versteht sich.“ Ich musste diese Frage einfach stellen.

„Wir versuchen, testgerecht zu reagieren. In Ihrem Fall würde ich sagen … Fernsehverbot.“

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„In Ihrem Fall würde ich sagen … Fernsehverbot.“

Wir lachten über diesen vermeintlich gelungenen Scherz. Ich hatte ja keine Ahnung, wie gründlich mir das Lachen noch vergehen würde. Vielleicht hätte ich bei diesem plötzlichen Heiterkeitsausbruch des ansonsten distinguierten, etwas steifen Mr. Greenbaum stutzig werden sollen, aber mir kam ja ohnehin die ganze Situation schon reichlich absurd vor.

Wenn da nur nicht diese Bezahlung gewesen wäre und damit die Aussicht, Rob zu retten und mir die Finanzierung von Studium und Lebensunterhalt zu sichern!

Greenbaum, der sich selbst noch ein paar Sekunden gut amüsiert hatte, wurde plötzlich ernst. „Ist es mir gelungen, Ihnen das Prinzip unserer Versuchsreihen verständlich zu machen?“

Wir nickten.

„Sehr schön. Dann kommen wir jetzt zu den vertraglichen Modalitäten.“

„Wie geht es weiter, nachdem wir die Verträge unterschrieben haben?“ Caren schien es nicht erwarten zu können. Ich dachte an Rob und verstand ihre Eile.

„Sie werden sich zu diversen medizinischen Untersuchungen begeben. Überwiegend können Sie das bei Ärzten Ihres Vertrauens machen. Bitte achten Sie aber darauf, dass die Termine passen! Nach 14 Tagen kommen Sie zum Testbeginn zu uns. Sie bringen uns sämtliche Papiere mit. Wir versorgen Sie dann mit testgerechten Dokumenten.“

„Moment! Sie fälschen die Geburtsdaten in unseren Ausweisen?“ Ich konnte es kaum glauben.

„Wenn die zuständige Behörde ein Dokument ausstellt, kann man wohl kaum von einer ›Fälschung‹ reden. Es geht da eher um die zeitweise Duldung einer falschen Angabe. Unsere Forschungen werden mit Unterstützung der Regierung durchgeführt.“

Wusste ich wirklich, worauf ich mich da einließ?

Greenbaum fuhr fort: „Sie bringen außerdem Ihre sämt-lichen Schlüssel mit. Während wir Sie hier vorbereiten und die notwendigen Korrekturen vornehmen, sorgen unsere Außenteams für die passende Gestaltung der Lebensräume.“

„Sie bauen unsere Wohnungen um?“ Jetzt schien auch Caren ein wenig kalte Füße zu bekommen.

„Nur im Rahmen des Erforderlichen. Wir beseitigen möglicherweise vorhandene Drinks und … ähem … Pornos … also Dinge, die dem Testalter nicht angemessen sind. Es gab schon Probanden, die sich ›zur Sicherheit‹ eine größere Geldsumme versteckt hatten. Das geht natürlich nicht.“

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„Das geht natürlich nicht.“

Das fand ich schlüssig. Meine Sorge bezog sich auf eine andere Bemerkung. „Was meinen Sie mit ›Korrekturen‹?“

„In Ihrem Fall dürfte da nicht viel zu tun sein, aber bei den Spätsenioren zum Beispiel erfolgt die Gabe eines Muskelrelaxants, weil Kraftentfaltung natürlich auch mit blockierten Synapsen möglich wäre. Eine unkontrollierte Muskelkontraktion könnte problematisch werden und das müssen wir zum Schutz unserer Probanden natürlich vermeiden. Bei Ihnen dürfte nicht viel mehr erforderlich sein als eine etwas besser zum Testalter passende Frisur, haha.“

Ich war tatsächlich so blöd, das zu glauben. Vermutlich lag das an der Priorität meiner weiteren Frage: „Was passiert, wenn jemand vor Testende aussteigen will?„

„Das ist unmöglich. Das Testalter wird nicht auf einmal, sondern nach und nach erreicht. Je nach Testreihe verbringen unsere Probanden einen Teil des Versuchs in ihrer eigenen Lebensumgebung. Manche begeben sich dann natürlich früher oder später in unsere Obhut. Das ist wie im richtigen Leben. Manchmal geht es eben nicht anders.“

„Eine Art Heimeinweisung?“ Caren wirkte gefasst.

„Genau. Das allmähliche Erreichen des Testalters ermöglicht es uns, gemeinsam die unterschiedlichen Aspekte der Pro- oder Regression präziser zu erfassen. Aus diesem Grund erhalten Sie bei Testbeginn einen subkutanen Wirkstoffträger, der die Effekte durch verzögerte Abgabe der jeweiligen Wirkstoffe in den Organismus erzielt. Das, was diese Stoffe nicht erreichen können und was dennoch erforderlich ist, um einen realistischen Versuch aufzubauen, wird mittels der angesprochenen Korrekturen erzielt. Der Wirkstoffträger selbst kann aufgrund seiner sich in Abschnitten auflösenden, hochgradig empfindlichen Oberflächen nicht entfernt werden, ohne dass sämtliche Wirkstoffe auf einmal in den Organismus gelangen. Weil wir nach Testende die Wirkung durch genau dosierte Gegenpräparate aufheben, kann es passieren, dass eine Gegenmedikation in Teilen unmöglich wird. Die Effekte würden dann irreversibel.“

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„Die Effekte würden dann irreversibel.“

Ein Jahr wieder 14 sein oder ein ganzes Leben lang? Puh! Dann mussten es eben volle 12 Monate werden!

Wir stellten noch weitere Fragen und erfuhren, dass der Medikamententräger mit örtlicher Betäubung in die Achsel injiziert würde, wo keine Gefahr einer Beschädigung besteht, weil der bloße Druck von Armmuskeln dafür nicht ausreicht. Na, immerhin! Über die Einzelheiten unseres „Teeniedaseins“ (wir glaubten ja, dass uns nichts Schlimmeres passieren würde) wollte Mr. Greenbaum nichts sagen, weil man im „richtigen Leben“ ja auch nicht vorher weiß, was kommt. Hm. Das war irgendwie logisch. Ich wollte wissen, ob ich weiter bei „Bad Girl“ arbeiten könnte und Mr. Greenbaum meinte, dass bei Einhaltung entsprechender Jugendschutzbestimmungen keine Bedenken bestünden. Mr. Glover würde sicher auch eine 14-Jährige beschäftigen, wenn die ihm Umsatz bringt, dachte ich. Mit 14 auf High-Heels und bauchfrei war auch nicht weiter ungewöhnlich. Ich war zwar keine absolute „Frühstarterin“ gewesen, aber in dem Alter hatte ich mich durchaus schon mehr als Frau denn als Kind gefühlt.

Und diesen ganzen Wirrwarr, dieses Hin und Her, dieses Chaos, diese Zerrissenheit sollte ich mir jetzt erneut antun? Für ein ganzes Jahr? Freiwillig?Für eine Riesen-summe Geld und ein sorgenfreies Studium?Das gab den Ausschlag.Ich unterschrieb die Verträge. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass irgendein Gericht in irgendeinem Bundesstaat durchgehen lassen würde, dass hier sämtliche Menschenrechte außer Kraft gesetzt wurden. Nach der Drohung der Unumkehrbarkeit würde aber jedes Versuchskaninchen lieber durchhalten als vor Gericht zu gehen. Ich hätte in diesem Moment zu einem Anwalt gehen sollen. Da hätte ich es nämlich noch gekonnt.

[1] vgl. Hintergrundmaterial zu „Ras-Al-Masuf“, kostenlos verfügbar auf www.dellicate.com

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