Tochter der Gewalt - Der Nemesis-Zyklus, Band 3 Tochter der Gewalt  
 
1 - Die Anmeldung

Normalerweise hasste sie es, wenn sie um 18 Uhr das Büro verließ und es draußen schon dunkel war. Aber diesmal war alles anders. Morgen würde ihr großer Tag sein.

Normalerweise empfand sie den vorweihnachtlichen Menschenauflauf in der Fußgängerzone als störend, ja sogar beängstigend. Diesmal lächelte sie ihnen zu, den verwirrten Geschäftsmännern auf der Suche nach teurem Schmuck für ihre Frauen und etwas billigerem für ihre Betthäschen. Sogar die fetten Weiber mit den noch fetteren Kindern, schreiend (die fetten Weiber) und quengelnd (die fetten Kinder), machten ihr keine Angst mehr davor, unversehens platt gewalzt zu werden.

Normalerweise fühlte sie sich angeekelt vom Gestank alten Fettes, in dem festliche Bratwaren auf den Verzehr wartend vor sich hin siedeten und billiger Duftmischungen, die schlecht geschminkte Frauen in Norwegerpullis in grün gestrichenen Holzbuden feilboten. Diesmal überlegte sie sogar einen Augenblick, ihren Sushi-verwöhnten Minimagen mit einem Kartoffelpuffer zu verseuchen.

An der Abzweigung zu Frankfurts nobler Shopping-Meile stand ein alter Mann mit einem Leierkasten und dudelte „Stille Nacht“ vor sich hin. Niemand schien ihn zu beachten an diesem alles andere als stillen Abend. Normalerweise wäre auch sie an ihm vorbeigeeilt, zumal weder ihr Musikgeschmack angesprochen wurde, noch das Weihnachtseinkaufsgetümmel ringsherum wirklich zum Verweilen einlud, aber diesmal blieb sie einen Moment stehen, um ihren Gedanken nachzuhängen. Vor ihrem geistigen Auge tauchte ihre neue Visitenkarte auf: „Kauffr. (grad.) Sabine Berger, Abteilungsleiterin Personalwesen II und Assistentin des Vorstandes.“ Na, wenn das nicht schon was ist!

Morgen würde sie die höheren Weihen erhalten, von ihrem kleinen Zimmer im zwanzigsten Stock bis fast ganz nach oben, zwei Stockwerke unter der Chefetage, in ein Büro umziehen, das nicht viel kleiner wäre als ihr Apartment am Mainufer.

Der Leierkastenmann schenkte der schönen, jungen Frau ein Lächeln, mit dem er seine verbliebenen fünf Zähne entblößte, als Sabine ihm zwei Euro in die auf dem Leierkasten stehende, verbeulte Blechdose warf. Die musikalische Darbietung war den Preis kaum wert und dass der Interpret, dessen schnapsgetränkter Atem sich unter all die anderen vorweihnachtlichen Gerüche mischte, den Inhalt seiner Blechdose alsbald in Trinkbares verwandeln würde, erschien höchstwahrscheinlich. Normalerweise hätte Sabine den in den gelben Augen des Mannes erkennbaren Verfall seiner Leber nicht beschleunigen wollen, aber in ihrer Hochstimmung war es ihr diesmal ganz egal. In freudige Gedanken versunken ging sie weiter.

Ja, sie hatte es geschafft. Vom Waisenhaus über die Uni direkt in einen internationalen Großkonzern und dort binnen drei Jahren zur jüngsten Frau in einer Stabsführung. Und das alles in einem Land, dessen Sprache ihre Muttersprache war, dessen Sitten und Gebräuche ihr aber auch nach nunmehr fast sieben Jahren immer noch fremd erschienen. So fremd wie die Leute auf dem Foto, das man ihr in dem Waisenhaus am Ijsselmeer gezeigt hatte mit der Erklärung, dies seien ihre Eltern gewesen.

Es war ein Zufall gewesen, dass ihre berufliche Karriere in der Stadt ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte, in der ihr Vater gelebt hatte, bis er sich in dem kleinen friesischen Kaff zur Ruhe setzte, noch einmal heiratete und mit 60 zum ersten Mal Vater wurde. Die kleine Sabine war drei Jahre alt, als der Unfall geschah. Sabine dachte an den Afsluitdijk und daran, dass es nach menschlichem Ermessen unmöglich war, mit einem Auto die Leitplanken zu durchbrechen. Aber war es denn nach menschlichem Ermessen möglich, ohne einen einzigen Angehörigen, ohne wirkliche Vorbilder, ohne Orientierung so weit zu kommen, wie sie, die kleine Deutsche aus der niederländischen Provinz, jetzt gekommen war (oder besser: mit dem morgigen Tage gekommen sein würde).

Ob ihr Vater stolz auf sie gewesen wäre? In der Firma wusste niemand, dass der große Finanzvorstand der 60er Jahre, „der Berger“, mehr als nur den Namen gemein hatte mit der kleinen, hübschen, aber unnahbaren Personalmieze, die man so besser nicht nennen sollte, wenn man selbst noch ein paar Stufen auf der Karriereleiter vor sich hatte. Nein, sie war nicht wirklich beliebt unter ihren Kollegen. Zu präzise arbeitete ihr Verstand, zu scharf war ihre Zunge, zu selten nahm sie Anteil an dem, was man „innerbetriebliche Klimapflege“ nannte. Klatsch und Tratsch waren ihr zuwider und gegen die seit ihrem 13ten Lebensjahr zum Dauerzustand gewordenen Annäherungsversuche der Männer hatte sie sich einen undurchdringlichen Panzer zugelegt. Für ihr Aussehen konnte sie nichts und die Zeiten, in denen sie sich als Freiwild fühlte, waren schon lange vorbei. Mit 27 hatte sie sich an das Gegaffe gewöhnt und manchmal holte sie ihr einziges Paar High Heels aus dem Schrank, bediente sich reichlich aus ihrem inzwischen doch gut gefüllten Kosmetikkoffer und stöckelte um die Ecke zum Italiener. Manchmal war es ganz angenehm, nicht ganz allein essen zu müssen. Manchmal war es sogar prickelnd, sich in Gefahr zu begeben. Meist jedoch war es eher nur eine öde Show männlichen Balzverhaltens. So würde sie eben weiter warten ... warten auf den einen richtigen Mann, der stark genug für sie wäre, der nicht nach ihrer Pfeife tanzen würde, der ihr Schmetterlinge im Bauch verursachen würde, der sie dazu bringen könnte, sich ihm wirklich hinzugeben.

Heute würde sie früh schlafen gehen.

Es hatte zu nieseln begonnen, als sie die Haustür öffnete und nach der Post sah. Werbung, Werbung, Werbung und ein Brief von der Firma.

Mantel über die Garderobe werfen, Schuhe ausziehen und den Anrufbeantworter abhören (wer sollte schon anrufen) waren schnell erledigte, allabendliche Rituale. Ein Gläschen Frascati würde sie sich noch gönnen und dann unter die Dusche und ins Bett. Den Brief geöffnet und dabei Jacke und Pullover abgestreift. Den Brief aufgefaltet und dabei die Hose herunter gelassen. Den Brief gelesen und erst mal in den Sessel fallen lassen. Damit hatte Sabine nicht gerechnet:

„Wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass Herr Dr. Hellmann an dem kleinen Umtrunk anlässlich Ihrer Beförderung am 4.12. gegen 9 Uhr teilnehmen wird.“

Der Boss der Bosse himself! Was wollte der von ihr? Ihr erster Gedanke war: Der steht wohl auf Brünette mit dunkelblauen Augen und Kleidergröße 34. Wie gemein!

Gut, ihre neue Position war nicht ganz unbedeutend, aber war das denn Grund genug für den CEO, sich zum Umtrunk einzufinden?

Mit weißem Baumwollslip und –BH bekleidet und auf ihren grauen Wollsocken rutschte Sabine in ihre Pantry-Küche an der Kühlschranktür vorbei (hinter der sich außer ein paar Bechern Joghurt, einer Salatgurke und einem Glas Oliven ohnehin nichts befand) zum Weinregal. Mit einer Flasche und einem Glas in der Hand ließ sie sich danach wieder in den Sessel gleiten. Die Füße auf das über Eck stehende, kleine Sofa gelegt, öffnete sie, leicht verwirrt, die Weinflasche.

Es wurden drei Gläschen Frascati, bis der Schlaf Sabine die Gewissheit gab, dass ihre Fragen ganz sicher nicht vor dem nächsten Morgen beantwortet würden.
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