Gefangene der Nacht - Schattenrose, Band 1 Gefangene der Nacht  
 
Der Umzug

„Mom, was soll denn das?“ Puh! Das konnte ja wieder heiter werden. Fast die Hälfte der Umzugskartons stand noch verpackt im Wohnzimmer herum und meine Mutter hatte es schon wieder geschafft, mich zu nerven.

„Ich dachte, Du würdest Dich vielleicht nicht davon trennen wollen, weil …“

„Mom! Das ist ein ganzer Karton voller Barbie-Puppen. Ich bin erwachsen. Warum hast Du sie nicht längst weggeworfen? Die mussten nicht mit umziehen. Die Möbelpacker sind doch schon teuer genug.“

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„Die Möbelpacker sind doch schon teuer genug.“

„Was haben denn die Möbelpacker damit zu tun?“

Ich hasste es, wenn sie sich blöd stellte. „Jede Kiste wird auf den Lkw geladen und später wieder entladen. Das kostet Zeit. Die Möbelpacker werden nach Zeit bezahlt. Na, klingelt’s?“

„Nicht in diesem Ton, junge Dame!“

Ich hasste es, wenn sie diesen Tonfall anschlug. Ich hasste es, wenn sie mich wie ein kleines Mädchen behandelte. Manchmal glaubte ich, dass Mom überhaupt nicht wollte, dass ich erwachsen wurde. Tja. Das hatte sie wohl nicht vermeiden können, obwohl sie mir meist auch keine Hilfe war. Ganze drei Freunde hatte ich mit meinen inzwischen 19 Jahren gehabt … und geschlafen hatte ich nur mit Trent, der Nummer 3. Das hatte ich Mom nicht erzählt. Mir hatte es schon gereicht, wenn sie mit ihren forschenden Blicken die Jungs, die ich mit nach Hause brachte, musterte und einfach nichts sagte.

Sie stand da, glotzte und schwieg – kein Smalltalk, wie man es doch eigentlich bei einer Mutter erwarten sollte, deren Tochter einen Freund einlädt. Nichts. Kein Wunder, dass Mom den Jungs unheimlich war. Keine Überraschung, dass mein jeweiliger Freund mich nach dem ers­ten Mal lieber nicht mehr besuchen wollte.

Keine guten Bedingungen für erste Männergeschichten.

Welche Tochter wünscht sich nicht eine Mutter, die sich verhalten kann wie eine beste Freundin? Für mich ging dieser Wunsch jedenfalls nicht in Erfüllung.

Wenn ich meine Unzufriedenheit einmal zeigte, dann kam Mom mit der Psycho-Keule. Okay, sie hatte es nicht leicht mit mir gehabt. Die Schwangerschaft musste schon hart gewesen sein und dann kam auch noch ein schwächli­ches, kränkelndes Mädchen dabei heraus.

Ich glaube, ich war häufiger in Arztpraxen als beim Fri­seur. Wirklich herausgefunden, was mir fehlte, hatte kei­ner. Mit 14, 15 Jahren wurde es plötzlich besser. Wieder war unklar, warum. Dennoch war ich häufig müde, fühlte mich schlapp und blieb blass, weil Mom fand, dass ich mit der UV-Strahlung vorsichtig sein sollte.

Immerhin war ich nicht mehr ständig krank.

Meine Mutter schaffte es, mich zum Einlenken zu bewegen. „Schon gut. Ich wollte ja nur sparsam sein.“

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„Schon gut. Ich wollte ja nur sparsam sein.“

Sie musste nichts weiter sagen.

Sie hatte auch nichts weiter gesagt.

Sie brauchte nur ihre „ich-kümmere-mich-doch-so-sehr-um-Dich“-Miene. Damit hatte sie mich jedes Mal.

Ich hasste ihre Psycho-Spielchen. Es war mir ein Rätsel, wie ihre Schüler das aushielten. Oft stellte ich mir vor, wie sie Mom Streiche spielten, weil meine Mutter ja so überaus unbeliebt war.

Kurioserweise war sie in Wirklichkeit sogar sehr beliebt. Es musste wohl doch an mir liegen. Da hatte ich einfach Pech gehabt.

„Wenn Du Deine Puppen nicht mehr willst“, ließ sich Mom nicht beirren, „dann heben wir sie auf. Wenn Du eine eigene Tochter hast, wirst Du froh sein, wenn sie noch da sind. Das ist Sparsamkeit, Rose.“

So, wie Mom meine Freunde behandelte, würde „meine Tochter“ wohl im Reagenzglas entstehen müssen, dachte ich. Außerdem staunte ich schon regelmäßig darüber, wie Frauen mit guter Konstitution eine Geburt überstehen. Das wäre wohl kaum etwas für mich.

Wie eigentlich immer, ließ ich Mom ihren Willen. Sollte sie doch die Puppenkiste irgendwo auf dem Dachboden verstauen! Ich wandte mich lieber den Kisten mit den Hand­tüchern und der Bettwäsche zu. Einen Teil der Wä­sche hatten wir bereits ausgepackt, denn immerhin wohn­ten wir schon seit drei Tagen hier. Naja … „wohnten“ ist ein wenig übertrieben. Wir schliefen in diesem Haus. Schließ­lich hatte vor zwei Tagen mein letztes Highschool-Jahr begonnen. Ich war auch nicht wirklich an Wäsche und Handtüchern interessiert, aber clevere Möbelpacker füllten die jeweiligen Kisten mit Gegenständen unter-schiedlichen Gewichts. Unter dem Handtuchkram lagen meine Bücher.

Ich liebte Bücher. Ich genoss es, mich in unbekannten Welten aufzuhalten, spannende Abenteuer zu erleben oder … äh … romantische … also … ach, egal! Auf jeden Fall war ich in meinen durch Bücher inspirierten Träumen nie schwächlich und erschöpft. Die Figuren dort verwirr­ten mich auch nicht so wie „richtige“ Menschen - Heather zum Beispiel. Ich war ihr am ersten Schultag begegnet. Ein anderes Mädchen hatte mich angesprochen. „Neu hier?“

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„Neu hier?“

Während ich meinen Spind einräumte, antwortete ich: „Ja. Heute ist mein erster Tag.“

„Wo kommst Du her? Rio de Janeiro?“

„Was?! Seit wann sehe ich wie eine Brasilianerin aus? Das ist ja mal ganz was Neues. Wie kommst Du auf diese Idee?“ Ich sah mir meine neue Mitschülerin genauer an. Sie trug eine nicht ganz blickdichte, bauchfreie Bluse, un­ter der ein roter Spitzen-BH durchschimmerte. Im Nabel steckte ein fettes Piercing und das geschlitzte, karierte Röckchen war nicht viel größer als ein Geschirrtuch. Hoch­hackige Sandalen komplettierten ein Outfit, das mich weniger an eine reale Highschool, sondern eher an männli­che Schulmädchenfantasien erinnerte, wie ich sie mal bei einer Party auf Video gesehen hatte. Es war eine der wenigen Feten gewesen, zu denen man mich eingeladen hatte – bestimmt aus Versehen.

„Ja, richtig. Du siehst eher wie eine Bauerstochter aus, die nie aus dem dunklen Stall herausgekommen ist. An Rio dachte ich wegen Deiner Kleidung. Die haben dort doch so große Slums. Wie nennt man die gleich? Falafel?“

„Favelas“, hörte ich eine andere, weibliche Stimme hinter mir.

Als ich mich umdrehte, sah ich Schulmädchenfantasie Nr. 2. Ob das hier wohl eine angesagte Mode war? Mom würde komplett durchdrehen, wenn ich mich da anpassen wollte.

„Ich bin Heather. Hi.“ Fantasie 2 machte einen Schritt auf mich zu und reichte mir ihre sorgsam pedikürte Hand mit langen, lackierten Nägeln.

Ich ergriff sie. Sie war schlaff. „Rose.“

„Rose? Schöner Name. Und so … antik. Nimm Tessas Gerede nicht so ernst! Sie provoziert gern und wollte wohl mal sehen, ob Du eine Mimose bist. Bist Du eine Mimose?“

„In dunklen Ställen wachsen keine Mimosen. Wie nennt man eigentlich Pflanzen, die Slums nicht von frittierten Bällchen aus Kichererbsen unterscheiden können?“

“Hey, Trampel! Pass auf, mit wem Du Dich anlegst!“

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„Pass auf, mit wem Du Dich anlegst!“

Tessa war offensichtlich auf Krawall gebürstet. Ich wollte auf keinen Fall frühere Fehler wiederholen. Ich wusste aus Erfahrung: Wenn ich mich nicht gleich am ersten Tag zur Wehr setzte, würde mein letztes Schuljahr zur Hölle ... mal wieder. „Ich will keinen Streit. Du etwa? Dann komm her!“

Zu meiner Überraschung schien Heather mir beizusprin­gen. „Okay“, meinte sie, „Rose ist also keine Mimose. Dann lass‘ sie in Ruhe, Tessa! Sonst treibst Du sie noch in die Arme der Spinner.“

Tessa wirkte immer noch aufgebracht, trat aber einen Schritt zurück. „Du meinst, die soll eine von uns werden? Ich weiß nicht.“

„Sieh sie Dir doch mal genauer an! So hässlich ist unsere Rose hier gar nicht. Ein paar ordentliche Klamotten, ein vernünftiges Make-Up … dann geht die glatt als Frau durch.“

Das reichte mir. Es war mir egal, ob ich mir diese zwei Kampfhäschen zu Feindinnen machen würde. „Leute, ich glaube, ich bleibe doch lieber Pflanze und wachse in Ruhe vor mich hin.“ Ich griff nach meinem Rucksack.

Heather baute sich vor mir auf und versperrte mir den Weg zu den Klassenzimmern. „Augenblick, Rose! Ich weiß nicht, wie es da war, wo Du herkommst. Hier haben Einzel­gängerinnen schlechte Karten. Ohne Freundinnen wird das ein echt anstrengendes Schuljahr für Dich, Kleine.“

„Freundinnen? Nichts für ungut, aber Freundschaften schließt man, glaube ich, nicht, indem man sich erst ein­mal beleidigt und bedroht.“

„Bist Du doch eine Mimose? Hör zur: Tessa wollte nur mal sehen, ob Du Mumm hast. Hast Du. Schön. Hässlich bist Du auch nicht. Deshalb passt Du zu uns. Wir sind die Legs.“

Heather schien das ernst zu meinen und ich verkniff mir ein Grinsen. „Die was?! ›Legs‹? Beine? Gibt es hier auch die ›Arms‹ als Konkurrenz-Gang?“

„Es gibt die Nerds und es gibt die Spinner. Die Nerds sind die pickeligen Idioten, die sich in der Cafeteria regel­mäßig bekleckern und die Spinner … naja … die sind … Spinner eben. Total durchgeknallt.“

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„Total durchgeknallt!“

„Männliche Nerds gibt es bestimmt viele und männliche … ›Spinner‹ ja sowieso, aber was ist mit Jungs in Eurer Clique? Tragen die kurze Röckchen und hochhackige Schuhe?“

Heather schaute über meine Schulter grinsend zu Tessa, die sich geräuschvoll an die Metallspinde gelehnt hatte. „Habe ich es nicht gleich gesagt? Unsere süße Rose hier ist ein stilles Wasser. Ihr wichtigstes Anliegen sind Jungs. Die passt zu uns.“

Ich war nicht der Auffassung, dass ich sonderlich gut zu den Highschool-Versionen von Lara Croft und Barbie passte, aber ich wollte auch an meinem ersten Tag keinen Streit – sofern das überhaupt machbar war.

Heather, das Püppchen mit der wasserstoffblonden Mähne und der nicht wirklich natürlich gewachsen aussehen­den Oberweite (was allerdings auch für Tessa galt), wandte sich wieder an mich: „Um Deine Frage zu beantworten … wir sind hier die Elite. Der Rest zählt nicht. Deshalb brauchen wir keine Jungs im Team. Wir können jeden haben. Natürlich bevorzugen wir Adäqua­tes. Im Football-Team gibt es keine Mädchen. Da ergänzen wir uns eben. In dieser Stadt können nur Legs Cheerleaderinnen werden.“

Ich begriff. Das kannte ich schon von meiner alten Schule. Heather bezeichnete dieses Kaff hier als „Stadt“. Vermutlich glaubte sie das wirklich. Ich glaubte eher, dass die Enge und Muffigkeit dieser Gegend Abgrenzungen begünstigte. Dieser ganze Mist wie Cheerleading und Beauty-Contests war zwar überall verbreitet, aber Heathers „Infos“ gaben mir das Gefühl, dass man es in Castle Hill besonders auf die Spitze getrieben hatte. Das änderte allerdings nichts an der Tatsache, dass ich einen verrückten Gedanken im Kopf hatte. Neugierig war ich sowieso. „Okay. Ich verstehe. Nerds gab es an meiner alten Schule auch, aber woran erkennt man ›Spinner‹?“

„Das ist ganz leicht“, antworte Heather. „Es gibt eine Menge von ihnen. Da! Da vorn kommt so ein Freak. Die tragen alle solche Uniformen.“

Wie konnte sich eine Anhängerin des Cliquenwahns despektierlich über Uniformen äußern? Naja, es war eben nicht die eigene Uniform. Ich sah mir den „Freak“ an.

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Ich sah mir den „Freak“ an.

„Ach, so! Da, wo ich herkomme, nennt man das ›gothic‹. Diese Leute sind doch harmlos. Die sind hier so zahlreich? Gibt das keinen Ärger mit den Hot Pants und den ganzen Piercings?“ Der Stil mochte ja etwas anders sein, aber wenn ich mir „den Freak“ näher anschaute, dann war das nicht nur ein hübsches Mädchen, sondern hätte mit den Beinen eigentlich eine Aufnahme bei den „Legs“ verdient gehabt. Naja, das war natürlich Unsinn. Auf jeden Fall stimmte die Uniform nicht.

Diesmal antwortete Tessa: „Die Schlampen können hier herumrennen, wie sie wollen. Das wird geduldet. Schließ­lich sind die ja für die Opf…“

„Das reicht! Rose wird die Besonderheiten in unserer Stadt noch früh genug kennenlernen. Also, Rose, eine von den Spinnern hast Du jetzt gesehen. Sollen wir Dir auch noch einen Nerd zeigen?“

„Nö, nicht nötig. Die gab es bei mir zu Hause auch“ (und mich hatte man meist dazugerechnet, dachte ich).

„Gut. Dann weißt Du, was Du wissen musst. Und?“

„Und … was?“

Heather sah mich eindringlich an. „Nerds, Spinner oder Legs. Du musst Dich entscheiden.“

„Muss ich das?“ Offenbar legte man in diesem Kaff noch weniger Wert auf Individualität als in meiner Heimatstadt und da hatte es schon mehr als genug Gruppenzwang und Konformitätsdruck gegeben. Ich hasste das, aber diesmal wollte ich nicht den Fehler machen, mich von vornherein ausgrenzen zu lassen. Warum eigentlich nicht? Neuer Ort, neue Schule, neuer Anfang. Warum nicht mal etwas Neues versuchen? Warum nicht endlich mal irgendwo „dazugehö­ren“?

„Natürlich musst Du Dich entscheiden. Du willst es Dir überlegen? Gut. Du hast Zeit bis nächsten Montag. Du kannst zum Abschaum gehören oder eine Angehörige der Elite sein. Ein solches Angebot gibt es nur einmal. Denke daran: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.„

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„Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.“

Mit diesen Worten wandten sich Heather und Tessa hüft­schwingend zum Gehen. „Elite“, pah! Allerdings … womöglich gab es hier ja einen intelligenten Quarterback?



Der Fluch

Abgesehen von der Begegnung mit den beiden Cheerlea­der-Elite-Footballer-Vernascherinnen verliefen meine ers­ten zwei Schultage ereignisarm. Das lag vor allem an mir, denn ich versuchte auch in den Pausen, Begegnungen weitgehend zu vermeiden. Das war natürlich nicht ganz durchgängig möglich. Wie es fast nicht anders zu erwar­ten war (was ich mir zähneknirschend eingestehen musste), sprachen mich ein paar Nerds an. Das Übliche: Woher kommst Du? Bei wem hast Du Kurse belegt? Was machst Du so außerhalb der Schule? Ich gab kurze, aber nicht unhöfliche Antworten. Dann wurde ich darüber belehrt, wie langweilig oder lustig oder verrückt dieser oder jener Lehrer und wie streng oder ätzend oder cool diese oder jene Lehrerin war und es wurde versucht, heraus­zufinden, in welchen Fächern ich mich wohl eig­nete, um von mir abzuschreiben. Naja.

Die Gothics, die tatsächlich erstaunlich zahlreich waren, kümmerten sich ebenso wenig um mich wie die aufgebrezel­ten Tussis. Sah ich denn wirklich so nerdy aus?

Tja. Blöde Frage. Vor allem, wenn man die Antwort kennt.

Mom hatte auch nicht allzu viel erlebt. Sie erzählte mir ohnehin wenig von ihrer Arbeit. Ich war gespannt, auf welche der Lehrerinnen-Listen sie gesetzt würde. Ich wäre für „ätzend“ gewesen, aber vermutlich würden alle ande­ren Schüler sie mal wieder „cool“ finden. Die allseits be­liebte, angesehene Lehrerin mit der schwächlichen, unschein­baren Tochter, die sich den ganzen Tag in ihre Bücher verkroch. Wie immer! Kotz! Würg!

Ich pfefferte gerade ein paar meiner älteren Taschenbü­cher ins Regal, als es klingelte. Mom hatte mich schon auf den Besuch unserer neuen Nachbarin mitsamt Nerd-Sohn („Lenny ist in Deinem Alter und er liest Shakespeare“) vorbereitet. Ich begrüßte Mrs. Lewis artig und lud Lenny noch artiger zu einer Limo auf die Terrasse ein. Ob ich es mit Wodka wohl besser ertragen hätte?

„Du bist also Rose.“

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„Du bist also Rose.“

Ich stellte die Gläser auf den Tisch. Dieser Lenny mit sei­nem für die Jahreszeit viel zu dicken, hässlichen Pullover und seinen Segelohren würde bestimmt nur meine Freizeit verschwenden, dachte ich. „Nein, Rose wird seit 19 Jahren im Keller gefangen gehalten. Ich bin nur Betsy, das Dienstmäd­chen.“

„Freut mich, Betsy. Ich bin Mr. Fatal Error, der irre Hacker, der sich nur von Pizza ernährt und unfähig ist, reale Sozialkontakte zu pflegen.“

Holla! Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Ein Nerd, der wie ein Nerd aussah und trotzdem Selbstironie besaß? Womöglich wäre meine Freizeit ja doch nicht rest­los vergeudet. „Meine Sprache verstehst Du aber schon, oder muss ich in Algorithmen reden?“

„Wenn Du nicht allzu schnell sprichst, werde ich Dich schon verstehen.„

„O-kay … Mis-ter … Er-ror … oder … darf … ich … Fatal … zu … Dir …“

„Schon gut! Etwas schneller wäre durchaus in Ord­nung.“

Ich kicherte und nippte an meiner Limo. So übel war Lenny also gar nicht. „Wo gibt es denn hier gute Pizza?“

„Falsche Frage, Ro… Betsy. In Castle Hill fragt man nicht ›wo‹, sondern ›ob‹. Es gibt ein Diner mit Schweine­fraß-Tiefkühl-Pizza. Die schmeckt noch übler als die, die Mom gelegentlich einkauft. Keine Ahnung, wie die das hinkriegen. Gute Pizza gibt es nur bei Luigi. Der heißt zwar in Wirklichkeit Steve; ist aber italienischer Abstam­mung und weiß absolut, wie man eine leckere Pizza macht.“

„In der Schule habe ich zwei Tussis getroffen, die tatsäch­lich glaubten, Castle Hill wäre eine Stadt. Du scheinst das realistischer zu sehen.“

„Das ist ein Kuhdorf voller Hinterwäldler. Ich glaube, Castle Hill ist so eine Art Vorhölle zur geschlossenen Abtei­lung eines Irrenhauses.“

„Oh. Schon klar, dass es keine Metropole ist, aber so übel findest Du es? Bist Du nicht hier geboren?“

„Doch. Bin ich. Die haben hier alle einen an der Waffel. Muss wohl am Fluch liegen.“

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„Muss wohl am Fluch liegen.“

Lenny machte dabei einen Gesichtsausdruck, der mich schon wieder zum Kichern brachte. „Ein Fluch? Cool! Was denn für ein Fluch? Irgendwas mit Zombies? Oder bekommt man Gehirnschwund, wenn man zu lange in Castle Hill wohnt?“

„Gehirnschwund auf jeden Fall. Dagegen hilft nur Inter­net mit Flat und fetten Datentransferraten.“

„So, wie es aussieht, gibt es zumindest unter den jungen Leuten sowieso nur Footballer und Cheerleader, Gothics und … Computerverrückte.“

„Du meinst Nerds. Naja … wie ein Quarterback sehe ich ja nun wirklich nicht aus und um ›gothic‹ zu sein, fehlt mir die Zeit. Ich meine … die brauchen bestimmt mehr als eine Stunde jeden Morgen, bis die Kontaktlinsen und das Make-Up sitzen. Letzteres gilt allerdings noch mehr für die Legs.“

„Die haben mich angesprochen, ob ich bei denen mitma­che.“

Lenny ließ seine Blicke unverhohlen an meinen Beinen auf- und abwandern. „Naja … die Voraussetzungen hast Du wohl. Wer hat Dich angesprochen?“

„Heather und Tessa.“

„Die Silikonhexen? Wow! Heather Strickland ist die Nr. 1 bei den Legs. Du solltest zusagen.“

„Ich weiß nicht recht. Ich glaube, Mom hätte etwas dage­gen, wenn ich mein ganzes Taschengeld für Klamotten ausgeben würde und ich kann nicht sonderlich gut auf hohen Hacken laufen.“

„Deine Mom hätte bestimmt noch mehr dagegen, wenn Du mit einem Nasenring herumlaufen würdest. Dann bleiben nur die Nerds. Na dann … willkommen am unte­ren Ende der Nahrungskette!“

„Es muss doch möglich sein, ohne Etikett klarzukom­men! Das geht mir auf den Nerv!“

„Ohne Etikett? Hier? Nie! Woanders ist das aber doch auch so. Hattest Du bisher kein Etikett?“

„Doch“, gab ich kleinlaut zu. „Ich war das Mädchen, das nie mitmachen durfte, wenn es mal etwas Spannendes gab und das nur zu Hause zwischen Büchern hockte. Naja … später war ich dann eben auch … ein Nerd. Ich hasse das!“

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„Ich hasse das!“

„Ich würde mich freuen, wenn mal eine von uns einen Aufstieg schafft. Du solltest das machen.“

„Das ist doch kein ›Aufstieg‹. Diese ›Legs‹ sind total hohle Nüsse, die nichts weiter im Kopf haben als Footbal­ler und Nagelstudios.“

„Schon möglich. Allerdings ist Dr. Strickland der Vorsit­zende des Elternbeirates und Tessa Horners Vater ist der Bürgermeister von Castle Hill. Die Eltern der Legs sind genau die Leute, die in dieser Gegend das Sagen haben. Du kannst dazugehören. Du musst ja dafür Deinen Kopf nicht entleeren und Nagelstudios hineinpacken. Es ist ja nur ein Jahr. Mach einfach bei denen mit, werde meinetwegen die Königin des Abschlussballes und hake Deine Nerd-Vergangenheit ab! Du kannst nur gewinnen.“

Lenny war ein schlaues Kerlchen. Allmählich fing ich an, ihn zu mögen. Ich kam nicht umhin, seine Argumente gar nicht so falsch zu finden. Vielleicht war das wirklich eine Chance. Meine Chance. „Gibt es eigentlich richtigen Ärger zwischen diesen Cliquen? Ich meine … die Springerstiefel, die ich an einer Gothic-Frau gesehen habe … bei uns wa­ren die harmlos, aber hier …“

„Sind die hier auch. Nein, körperliche Auseinandersetzungen oder gar Schlägereien gibt es nicht. Gedisst wird natürlich, aber das Meiste bekommen wir Nerds ab. Die Legs haben die Macht und die Bluter - ›Gothics‹, wie Du sie nennst oder ›Spinner‹ in der Sprache der Legs - haben die Narrenfreiheit.“

„Bluter? Wieso ›Bluter‹?“

„Wegen der Opfer.“

„Opfer? Hä? Was soll denn das heißen?“

„Ich sagte ja schon: Auf Castle Hill liegt ein Fluch. Das ist doch allgemein bekannt. Hast Du nichts darüber gele­sen?“

Mom hatte diesen Job angenommen und ich hatte nur ein Jahr Schule vor mir. Danach wollte ich weg – weg von meinem alten Leben, weg von Mom. Es hatte mich nicht interessiert, Näheres über diese Übergangsstation zu erfah­ren. „Nein. Ich dachte, Du hättest nur einen Witz gemacht … von wegen Gehirnschwund und so.“

„Der Witz war Deiner. Der Fluch ist überliefert.“

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„Der Fluch ist überliefert.“

„Blödsinn! Es gibt keine ›Flüche‹. Eine Legende also. In­teressant. Und worum geht es dabei? Um Werwölfe?“

„Vampire.“

„Echt? Cool! Erzähl!“

„Während der Sezessionskriege gab es hier in der Nähe eine Schlacht. Die Briten drohten zu verlieren, doch einer ihrer Generäle hatte plötzlich Verstärkung organisiert. Es heißt, es waren nur drei Mann. Mit denen hat er die Trup­pen der Befreiungsarmee niedergemetzelt. Diese drei Solda­ten konnten nämlich nicht erschossen werden, weil es sich um Vampire handelte.“

„Vampire als Soldaten? Wie albern! Bekamen die ihren Sold in Blutbeuteln?“

„Nahrung gab es auf einem Schlachtfeld sicher eine Menge. Für Luigis Pizza würde ich ja vielleicht auch in den Krieg ziehen – wer weiß? Nein, der britische General war angeblich mit einem der Vampire verwandt. Das war ein Deal: Rettung vor der Verfolgung in Europa gegen die Beteiligung an der Schlacht. Naja, wie der Unabhängigkeitskrieg ausgegangen ist, wissen wir ja. Die Briten hätten wohl eher dreitausend oder dreißigtausend Vampire gebraucht. Der General kam in Gefangenschaft. Von den Vampiren hatte man nichts mehr gehört, bis ein angeblicher Neffe des britischen Generals ein paar Jahre später auftauchte und ein Schloss auf dem Galgenbaumhügel errichtete.“

„Galgenbaumhügel?“

„So hieß die zentrale Erhebung hier. In dem Wäldchen auf der Spitze wurden früher Viehdiebe aufgehängt. Nach­dem das Schloss gebaut worden war, hörte das mit dem Lynchen auf. Ohnehin sagt man, dass es sehr ruhig in dieser Gegend wurde. Das Schloss war alten europäischen Burgen nachempfunden und so kam der Name Castle Hill zustande. Später gab es nämlich eine kleine Siedlung am Fuße des Hügels. Die war eigentlich ganz normal, aber es verschwanden von dort immer wieder Einwohner spur­los.“

„Weil der ›Neffe‹ nämlich der Vampiranführer war, hihi. Das Dorf war dann wohl sein ganz persönlicher Lebensmittelladen. Das ist echt eine spannende Story.“

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„Das ist echt eine spannende Story.“

“Genau. Nach ein paar Jahren kamen die Bewohner jeden­falls auf diese Idee und stürmten das Schloss. Sie brannten es nieder. Weil sich auch die beiden Gefährten des Schlossherrn am Rande des Dorfes niedergelassen hatten, wurden auch deren Anwesen von den Dorfbewoh­nern heimgesucht. Die Ruine von Lowell House steht heute noch in einem kleinen Wäldchen an der Straße nach Pittsburgh.“

„Was wurde aus den ›Vampiren‹?“

„Der Legende nach hat man sie nicht erwischt. Sie spuken seitdem in den Ruinen ihrer Häuser. Vor 90 Jahren verschwand ein junges Mädchen, Elise Winterbaum, in der Nähe von Lowell House. Nach drei Monaten fand man ihre Leiche – kein bisschen verwest, aber blutleer. Sie wurde in der Familiengruft der Winterbaums, einer jüdischen Einwandererfamilie aus Deutschland, bestattet und leistet angeblich seitdem den Vampiren Gesellschaft. Ihr Bruder Carl soll damals durchgedreht sein. Weil er glaubte, seine Schwester würde als Vampir über den Friedhof spuken, ging er täglich zu ihrer Gruft und hinterließ dort einen Becher mit seinem Blut, damit sie immer genug Nahrung hatte. Angeblich wurden auch die Soldaten-Vampire später dort gesehen. Damit die sich keine weiteren Opfer holen, existiert seit dieser Zeit der Bluter-Kult. Im Laufe der Jahrzehnte wurde eine regelrechte Sekte daraus, deren Mitglieder die Vampire verehren und immer wieder Blut auf den Friedhof bringen.“

„Moment! Du meinst, die … ›füttern‹ Vampire? Krass! Woher nehmen die das Blut?“

„Sie zapfen es sich selbst ab. In kleinen Mengen ist das ungefährlich. Es wird ja nachproduziert.“

„Ieck! Bäh! Das heißt, es gibt so viele von den … ›Blutern‹, damit die Vampire immer schön satt werden und sich keine Menschen holen?“

„Ganz genau.“

„Wow! Das ist vielleicht schräg! Und der Bluter-Kult wird toleriert, weil die ach so aufgeklärten Bürger von Castle Hill dann keine Angst vor den Vampiren haben müssen? Absurd!“ Mich hielt es nicht mehr auf dem Stuhl.

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Mich hielt es nicht mehr auf dem Stuhl.

„So ist das aber. Andere Orte haben Schützen- und Klein­tierzüchtervereine und Castle Hill hat eben einen Vampir-Fütterungsverein.“

„Von einem Schützenzüchterverein habe ich noch nie ge­hört. Ach, egal. Du weißt schon, dass das eine komplett irre Story ist, die Du mir da erzählst, oder?“

„Klar. Ich finde sie ja auch irre, aber die Leute hier haben sich daran gewöhnt. Die finden das ganz normal. Hey, es gibt Leute, die glauben allen Ernstes an jungfräuliche Ge­burt. Andere glauben, dass sie als Massenmörder ins Para­dies kommen, wenn sie nur die richtigen ›Ungläubigen‹ killen. Wieder andere denken, dass Sex mit Frauen Sünde ist und missbrauchen kleine Jungs. In Castle Hill werden eben Vampire gefüttert. Ich denke, das ist ein vergleichs­weise harmloser Irrsinn.“

„Hm. Da ist was dran.“ Vor meinem inneren Auge sah ich mich am Eingang eines Vampir-Zoos ein paar kleine Blutbeutel kaufen. Mom würde mich natürlich ermahnen: „Geh nicht so nah ran, Rose! Sonst wirst Du gebissen.“ Ich musste lachen. Das war eine wirklich lustige Vorstellung.

Der Besuch von Lenny hatte sich als durchaus kurzwei­lige Unterhaltung entpuppt. Ich fand den Jungen jetzt nett (natürlich nicht „so“ nett). Die Geschichte, die er mir erzählt hatte, wollte ich unbedingt überprüfen. Ich war im­mer schon leicht ins Bockshorn zu jagen gewesen, weil ich viel zu gutgläubig war. Das Risiko, in eine Falle zu tappen und mich zu blamieren, wollte ich vermeiden. Spannend fand ich das Ganze aber auf jeden Fall. Ich wusste nicht, wie viel „Spannung“ auf mich wartete. Ich ahnte nicht, wie schnell ich alles gar nicht mehr lustig finden würde.

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