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1: Der Häuter

„Na, Ihr zwei Hübschen, wollt Ihr es Euch heute wieder von Frankenstein besorgen lassen?“

Brad war harmlos, fand Audrey. Seine Witze taugten nichts und seine Anzüglichkeiten kamen aus einer staubi­gen, tiefen Kiste, in denen sich – abgesehen von Sex, natür­lich – nur Autos, Computerspiele und Ahornsirupwaffeln befanden. Er nannte diese Kiste „Gehirn“.

„Bradley Stokes, allerletzter Nerd der medizinischen Fa­kultät“, konterte seine Kommilitonin, „was willst Du eigent­lich in einer Vorlesung über Neurochirurgie? Du wirst doch sowieso Gynäkologe und beschäftigst Dich vornehmlich mit weiblichen Genitalien – bis jetzt aller­dings wohl nur virtuell. Was interessieren Dich Gehirne?“

„Hohoho! Miss ›Ich-kann-mir-jede-Frechheit-erlauben-weil-ich-ja-so-hübsch-und-unschuldig-aussehe‹ist heute wohl mit dem ganz falschen Füßchen aufgestan­den?!“

„Brad, Du nervst und Deine blöden Witzchen kannst Du Dir ohnehin sparen“, sprang Eveihrer Freundin bei. „Wa­rum gehst Du nicht mit den anderen Affen Kokosnüsse suchen?“

„Weil die nicht mit Brad spielen wollen“, setzte Audrey nach. „Der hat eben nicht deren Bildungsniveau.“

Brad wusste, worauf er sich bei den beiden jungen Frauen einließ. Er versuchte es trotzdem immer wieder und holte sich jedes Mal eine verbale Abreibung ab.

Män­ner! Audrey schüttelte nachsichtig ihren Kopf. Was sie noch nicht herausgefunden hatte, war, ob er eher auf Eve oder auf sie selbst stand. Vermutlich sowohl als auch. Natür­lich hatte er keine Chance. Er war eben harmlos.

Wenn Brad seiner gerechten Strafe in Form adäquater Verspottung zugeführt worden war, be­nahm er sich manch­mal sogar wie ein richtiger Mensch, fand Audrey. „Kommt Euch das denn nicht auch komisch vor, was Frankenstein mit seinen Opfern anstellt“, wollteerwissen.

Eve verdrehte die Augen. „Franke… Professor Coleman ist ein Genie. Er wird irgendwann den Nobelpreis bekom­men, während Du immer noch sabbernd hinter kurzen Röcken herläufst. Seine Methode ist genial.“

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Seine Methode ist genial.

Eve meinte es so, wie sie es sagte. Sie war ein echter Fan des seltsamen Professors. Wer Eve sah, registrierte zu­nächst ihr mädchenhaft hübsches Gesicht, ihre roten Haare und – was vor allem Männern natürlich sofort auf­fiel – ihre langen Beine und ihre weibliche Figur. Auf den ersten Blick zunächst verborgen blieben ihr scharfer, analyti­scher Verstand, ihr Wissensdurst und ihre Fähig­keit, sich in eine ihr wichtige Sache bis zur Erschöpfung hineinzusteigern.

Eve spielte gern mit den Vorurteilen und trug bevorzugt kurze Kleider, High-Heels und kräftiges Make-up. Wenn sie dann, was ständig passierte, angesprochen wurde, als wäre sie ein sexy Dummchen, spießte sie die einfältigen Kerle mit ihrer spitzen Zunge regelrecht auf und ver­gnügte sich an deren Unbehagen.

Audrey fand nichts an derlei Spielereien. Sie stand der Freundin, mit der sie schon große Teile ihrer Kindheit verbracht hatte, an Attraktivität nicht wirklich nach, aber sie wollte sich nicht vom Studium ablenken lassen. Audrey ging Männergeschichten lieber aus dem Weg.

Es mochte daran gelegen haben, dass Audreys Situation weit weniger komfortabel war als die ihrer Freundin, denn Eve verfügte trotz ihres Ehrgeizes über die Gelassenheit einer Tochter aus gutem Hause, die zwar ihre Eltern (vor allem den Vater) „enttäuschen“ konnte, aber dank des elterlichen Vermögens zumindest keinen materiellen Druck verspürte. Audrey hingegen kam finanziell gerade so zurecht. Das war schon immer so gewesen – auch, als das Geheimnis begonnen hatte.

Auch ohne ihr Geheimnis hatten Eve und Audrey viel gemeinsam. Das Interesse für Neurologie und Neurochirur­gie gehörte dazu und so machten sich die beiden Freundinnen nun, den anhänglichen Bradley im Schlepptau, auf den Weg vom Neubau zum alten Flügel der Fakultät. Audrey fand es passend, dass Professor Coleman, der von fast allen Studierenden nur „Frankenstein“ genannt wurde, im historischen Anatomie­saal las. Diese Kombination hatte etwas Unheimliches. Audrey fand Coleman gruselig.

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Audrey fand Coleman gruselig.

Sie konnte nicht wirklich widersprechen, wenn Eve von Colemans „Genialität“ schwärmte. Vermutlich würde er tatsächlich irgendwann den Nobelpreis für Medizin erhal­ten, denn seine Methode zur Rekonstruktion menschlicher Nervenbahnen war revolutionär, aber nicht nur die Begleit­umstände der neuen Behandlung, sondern vor al­lem der Habitus des Professors ließen ihn in Audreys Au­gen den Nobelpreis ebenso verdienen wie den wenig schmei­chelhaften „Ehrentitel“.

Coleman war ein Frankenstein.

Er griff umfassender in den menschlichen Organismus ein, als es je ein Forscher vor ihm gewagt hatte. War schon die Erzeugung neuronalen Gewebes aus Stammzellen umstritten, was aus einem mittelalterlichen, religiösen Fanatismus resultierte, so ließen Colemans Aussagen über die Begleitumstände der Behandlung in Audreys Augen jeden Respekt vor der Persönlichkeit der Patienten missen. Audrey glaubte, dass es Coleman nicht um Menschen, sondern nur um das Erreichen seiner eigenen Ziele ging.

Eve sah das ganz anders. Sie war fasziniert von der, wie sie es nannte, „geistigen Freiheit und Souveränität eines Genies“.

Coleman selbst machte jedenfalls nicht den Eindruck, als ob es ihn auch nur die Bohne interessierte, wie man über ihn sprach. Wenn überhaupt, dann schien es ihm regel­recht Spaß zu machen, die Klischees zu bedienen.

Merkwürdige Dozenten gab es genug. Gestörte Frauenhas­ser waren darunter, die nur mühsam verbargen, dass nach ihrer Ansicht Frauen nicht in den OP, sondern an den Wickeltisch gehörten. Verhaltensauffällige gab es, die zurückzuckten, wenn sie sich versehentlich den Studen­ten auf weniger als drei Meter genähert hatten. Eitle Gecken und nerdige Eigenbrötler waren auch nicht selten.

Coleman war anders.Coleman war ein Gratwanderer.

Genie befand sich auf der einen Seite, musste Audrey zugeben. Auf der anderen Seite jedoch …

Professor Coleman war stets vor den Studierenden im alten Anatomiesaal. Audrey und Eve konnten noch so früh kommen – Coleman war immer schon da. „Wollen Sie mir bei den Vorbereitungen helfen, Ladies? Es ist nicht einmal Zwölf sine tempore.“

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„Es ist nicht einmal Zwölf sine tempore.“

Audrey, Eve und Brad suchten sich Plätze, ohne die Frage des Professors zu beantworten. Der schien auch nicht mit einer Antwort gerechnet zu haben und beendete seine Vorbereitungen.

Die Arbeit an Leichen ist im Rahmen des Medizinstudi­ums nicht nur normal – ohne diese Arbeit wären Lehre und Fortschritt in der Medizin nur noch die Hälfte wert. Audrey wusste das. Sie schrieb es Coleman zu, dass die verhüllte Gestalt auf dem Untersuchungstisch, der so alt war wie der ganze Saal, ihr ein Frösteln über die Haut trieb. Das kannte sie ansonsten nicht. Bei Frankenstein jedoch war alles irgendwie … schaurig.

Nicht nur bei, sondern auch an ihm.

Vermutlich konnte Professor Coleman gar nichts für seine blasse Haut. Womöglich hätte er selbst gern etwas gegen seine gleichzeitig stechenden und trüben Augen unternommen. Bestimmt wäre er selbst gern ein charman­ter, eloquenter, gutaussehender Dozent gewesen, den die Studentinnen in seinen Vorlesungen anschmachteten.

Nur Eve schmachtete und das galt weder seinem Ausse­hen noch seinem Auftreten. Es galt allein seiner Arbeit.

Die war ohne jeden Zweifel außergewöhnlich und so ka­men bis Viertel nach Zwölf noch ein paar weitere Besucher in Colemans Vorlesung, obwohl man ihnen ansehen konnte, dass sie sich mindestens so unbehaglich fühlten wie Audrey.

„CT, Damen und Herren“, stellte Coleman fest, ging zu den schweren Eichentüren des Anatomie-Saales und ver­schloss sie.

Audrey glaubte, von der Bank hinter ihr ein leises Stöh­nen zu vernehmen.

„Wir haben über die neuen, exomuskulären neuronalen Verbindungen gesprochen“, begann Professor Franken­stein seine Vorlesung. „Heute wollen wir uns mit der Positio­nierung beschäftigen.“ Er zog die Decke von der Leiche. „Darf ich Ihnen Miss Jane Doe vorstellen.“

Diesmal war Audrey sicher, ein Stöhnen zu hören.

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Diesmal war Audrey sicher, ein Stöhnen zu hören.

Der Leichnam war konserviert worden … und gehäutet.

„Miss Jane Doe hier starb mit nur 27 Jahren an einem Aneurysma. Ihre Eltern waren so freundlich, den Leich­nam der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen. Wir wer­den in der nun folgenden Vorlesungsreihe lernen, an wel­chen Punkten unser neues neuronales Netz anzubringen ist, um eine perfekte Motorik zu erreichen.“

Schräg hinter sich hörte Audrey eine männliche Stimme. „Und dann lassen wir Jane-Baby über den Campus laufen. Die Nacht der torkelnden Leichen, hähähä.“

Das waren Hunter und Lopinsky, zwei stiernackige Rude­rer, die dem Achter, dem ganzen Stolz der Universi­tät, angehörten. Sie waren noch nicht lange in Professor Colemans Kurs und hatten wohl dessen ausgezeichnetes Gehör unterschätzt.

„Diese Formulierung“, meinte der Professor mit schneiden­der Stimme, „bezeichnet vermutlich eher die Folgen Ihrer Siegesfeiern, Mister Hunter und Mister Lopinsky, beziehungsweise den Zustand, in welchem Sie sich nach den Feierlichkeiten regelmäßig zu befinden pfle­gen. Wären Sie nicht erst hier aufgetaucht, nachdem die Grundlagen schon vermittelt wurden, wüssten Sie, dass aufgrund einer weiteren Parallele mit Ihnen Miss Doe hier für derartige Geschmacklosigkeiten ungeeignet ist.Ihr fehlt nämlich, was auch Ihnen offenbar zu fehlen scheint: Ein lebendiges Gehirn, welches die Signale durch unser neues Netzwerk zu schicken in der Lage ist.“

Eve kicherte und Audrey musste dem Professor zugeste­hen, dass der sich offenbar nichts aus dem Umstand machte, dass Hunter sen. einer der Hauptsponsoren der Uni war.

Coleman fuhr unbeirrt fort. „Heutiges Thema: Neue Ver­knüpfung bei einer Schädigung des Conusmedullaris. Wir beginnen mit den Vertebrae der Lendenwirbelsäule und arbeiten uns dann in den nächsten Wochen bis zu Axis und Atlas vor.“

Ein Raunen erfüllte plötzlich den Saal.

„Ja, Sie haben richtig gehört, meine Damen und Herren. Wir werden uns in Gebiete vorwagen, in denen die Schädi­gung bisher zu einer einhundertprozentigen Mortalitätsrate führte. Wir können den Totalschaden der Columna Vertebralis kompensieren. Wir haben die Macht.“

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„Wir haben die Macht.“

Brad dachte an DarthVader, Audrey an Yoda (besten­falls) und Eve träumte sich zur Verleihung des Nobelprei­ses … an Dr. Eve Somerset, die Frau, welche die Coleman-Methode perfektionierte. Sie sah sich auf Konferenzen überall in der Welt und hörte den Beifall von Tausenden, während sie ihnen mitteilte, dass nun endlich eine bezahl­bare Methode entwickelt worden sei und es nirgendwo auf der Welt mehr Gelähmte geben müsste – dank ihr!

Davon abgesehen folgten die jungen Leute gebannt den Ausführungen von Professor Frankenstein, der nicht mehr und nicht weniger als ein zweites peripheres Nervensys­tem erfunden hatte und glaubhaft versicherte, jede Läh­mung damit heilen zu können. Weil das neue Netz jedoch irgendwie an die Muskulatur angeschlossen werden musste und dies an einer Vielzahl von Bereichen unvermeid­lich war, arbeitete Coleman eng mit führenden Dermatologen zusammen. Dennoch hatte er hierfür einen zweiten Spitznamen bekommen: Der Häuter. Je höher die neuronale Unterbrechung stattgefunden hatte, umso häufi­ger musste das Skalpell angesetzt werden. Auch aus diesem Grunde verließen die meisten der Studierenden Colemans Vorlesungen stets mit flauem Magen.

An diesem Tag sah Eve ihrer Freundin an, dass diese vom Gehörten ein wenig mitgenommen war und schlug vor, nach längerer Zeit wieder einmal der Aktivität nachzuge­hen, durch welche die jungen Frauen seit Beginn ihrer Pubertät ganz beson­ders miteinander verbunden waren. Es war ihr Geheim­nis. Daran, dass diesmal die „geheime“ Sache mehr als tragisch enden sollte, dachte niemand.

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